Franley, Mark
der gesamte obere Bereich des Schlosses für die Gäste tabu, denn sowohl an der großen Freitreppe als auch an den zwei kleineren Treppen in den Ecktürmchen stand je einer von Petrovs Männern.
Karla hatte lange überlegt und dabei auch daran gedacht, einen der Russen zu überwältigen, was allerdings nur eine Fünfzig-zu-fünfzig-Chance ergeben hätte. Auch den Plan, es mit einem eindeutig zweideutigen Angebot zu versuchen, verwarf sie wieder. Die bestmögliche Chance war ihr erst vor wenigen Minuten auf der Toilette gekommen und sie hatte den Vorteil, dass sie alles andere immer noch versuchen konnte, wenn es nicht klappen sollte. Die einzige Gefahr lag darin, dass sie sehr nahe an Petrov heran musste und nicht wusste, ob das ihre Selbstkontrolle mitmachte.
Ein letzter prüfender Blick auf ihre Kleidung, noch einmal tief durchgeatmet, dann durchquerte sie so selbstverständlich wie möglich den großen Eingangsbereich mit den Stehtischen. Petrov stand mit seiner Frau am letzten Tisch neben der Freitreppe und unterhielt sich gerade mit einem wichtigen Politiker. Karla versuchte ihn so gut wie möglich zu ignorieren und trat stattdessen an seine Frau heran, die, wie sie jetzt erst feststellte, fast einen Kopf größer als sie selbst war. Zu Karlas Erstaunen wirkte Petrovs Frau fast erleichtert, sich von dem Tisch lösen zu können, und als Karla ihr andeutete, etwas sagen zu wollen, fragte sie freundlich in gebrochenem Deutsch: »Was ich für Sie tun kann?«
Karla setzte einen Gesichtsausdruck auf, der, wie sie hoffte, deutlich zeigte, wie peinlich ihr es war, dann beugte sie sich zu der Frau vor und fragte: »Hätten Sie vielleicht einen gewissen Hygieneartikel für mich? Es ist mir überaus peinlich, aber ich habe heute nicht damit gerechnet.« Während Frau Petrov erst über die Frage nachdenken musste, vermutlich hatte sie nur die Hälfte verstanden, hoffte Karla inständig, dass die Frau jetzt nicht ihr kleines Handtäschchen öffnete und ihr das Gewünschte gab. Nun deutete die Frau mit einer versteckten Geste nach unten auf ihren eigenen Schritt und machte ein fragendes Gesicht dazu. Karla deutete ein Nicken an und machte anschließend wieder ein betroffenes Gesicht, worauf Petrovs Frau lächelte und ebenfalls nickte. Ohne viel zu erklären, flüsterte sie ihrem Mann zwei, drei Worte ins Ohr und machte eine knappe Kopfbewegung in Richtung Obergeschoss, dann hakte sie sich bei Karla unter und sagte: »Kein Problem meine Liebe, das mir auch schon ist passiert.«
Der vor der großen Freitreppe eingesetzte Leibwächter ließ zwar kurz den Blick über Karla schweifen, trat dann aber ohne jede Aufforderung zur Seite und ließ die beiden Frauen passieren.
Petrov war so in seine Gespräche vertieft, dass es eine halbe Stunde später Dimitrijs Nachfrage brauchte, damit er merkte, dass seine Frau schon viel zu lange weg war. Er entschuldigte sich bei dem Innenminister und ging, begleitet von seinem Leibwächter, die Treppe hinauf.
–52–
Tom Jänke rieb sich die gerade die müden Augen, als ihn sein eigenes Handy zusammenzucken ließ. Seit man die KTU dauerhaft mit in diese Mordermittlungen einbezogen hatte, war er kaum ins Bett, geschweige denn in das seiner Freundin gekommen. Mit von dem vielen Kaffee zitternden Händen zog er sein Handy aus der Tasche und fluchte laut, was kein Problem war, da er alleine in den Räumlichkeiten der Mordkommission saß. Es war später Samstagabend und wieder einmal hatte er eine Verabredung verpasst. Nach einem weiteren Klingelton hob er ab, hörte sich erst wortlos Marias Standpauke und anschließend ihr Ultimatum für das Fortbestehen ihrer Beziehung an. Doch noch während die wellenartigen Wortschwalle über ihn hereinbrachen, fiel sein Blick auf den Fernseher, der tonlos in einer Ecke des Raumes lief. Die Schrift auf dem Laufband im unteren Bereich der Bildfläche verkündete gerade, dass man einen lange gesuchten Drogendealer in das Zeugenschutzprogramm aufnehmen wollte, wogegen es heftige Proteste gab. Nicht dass ihn dieser Dealer interessierte, aber das Wort Zeugenschutzprogramm brachte ihn auf eine vielleicht alles entscheidende Idee. Maria setzte gerade zu einem neuerlichen Ausdruck ihrer Ungehaltenheit an, als Tom sie schlicht abwürgte, aber wenigstens versprach, sich am nächsten Tag bei ihr zu melden. Dann schmiss er das Handy auf den Tisch und begann in dem vor ihm liegenden Aktenstapel zu wühlen. Nach geschlagenen zehn Minuten hatte er endlich den
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