Franz Sternbalds Wanderungen
glauben, als sie den Unmündigen erklären wollen.«
»Oh, Martin Luther!« seufzte Franz, »Ihr habt da ein kühnes Wort über ihn gesprochen.«
Ludovico sagte: »Es geht eigentlich nicht ihn an, auch will ich die Mißbräuche des Zeitalters nicht in Schutz nehmen, gegen die er vornehmlich eifert, aber mich dünkt doch, daß diese ihn zu weit führen, daß er nun zu ängstlich strebt, das Gemeine zu sondern, und darüber das Edelste mit ergreift. Wie es den Menschen geht, seine Nachfolger mögen leicht ihn selber nicht verstehn, und so erzeugt sich statt der Fülle einer göttlichen Religion eine dürre vernünftige Leerheit, die alle Herzen schmachtend zurückläßt, der ewige Strom voll großer Bilder und kolossaler Lichtgestalten trocknet aus, die dürre gleichgültige Welt bleibt zurück und einzeln, zerstückt, und mit ohnmächtigen Kämpfen muß das wiedererobert werden, was verloren ist, das Reich der Geister ist entflohn, und nur einzelne Engel kehren zurück.«
»Du bist ein Prophet geworden«, sagte Roderigo, »seht, meine Freunde, er hat die ägyptische Weisheit heimgebracht.«
»Wie könnt Ihr nur«, sagte der Pilgrim, »so weise und so törichte Dinge in einem Atem sprechen und verrichten? Sollte man Euch diese frommen Gemütsbewegungen zutrauen?« –
Rudolph stand auf und gab dem Ludovico die Hand, und sagte: »Wollt Ihr mein Freund sein, oder mich fürs erste nur um Euch dulden, so will ich Euch begleiten, wohin Ihr auch geht, seid Ihr mein Meister, ich will Euer Schüler werden. Ich opfere Euch jetzt alles auf, Braut und Vater und Geschwister.«
»Habt Ihr Geschwister?« fragte Ludovico.
»Zwei Brüder«, antwortete Rudolph, »wir lieben uns von Kindesbeinen, aber seitdem ich Euch gesehn habe, fühle ich gar keine Sehnsucht mehr, Italien wiederzusehn.«
Ludovico sagte: »Wenn ich über irgend etwas in der Welt traurig werden könnte, so wäre es darüber, daß ich nie eine Schwester, einen Bruder gekannt habe. Mir ist das Glück versagt, in die Welt zu treten, und Geschwister anzutreffen, die gleich dem Herzen am nächsten zugehören. Wie wollte ich einen Bruder lieben, wie hätte ich ihm mit voller Freude begegnen, meine Seele in die seinige fest hineinwachsen wollen, wenn er schon meine Kinderspiele geteilt hätte! Aber ich habe mich immer einsam gefunden, mein tolles Glück, mein wunderliches Landschwärmen sind mir nur ein geringer Ersatz für die Bruderliebe, die ich immer gesucht habe. Zürne mir nicht, Roderigo, denn du bist mein bester Freund. Aber wenn ich ein Wesen fände, in dem ich den Vater, sein Temperament, seine Launen wahrnähme, mit welchem Erschrecken der Freude und des Entzückens würde ich darauf zueilen und es in meine brüderlichen Arme schließen! Mich selbst, im wahrsten Sinn, fände ich in einem solchen wieder. – Aber ich habe eine einsame Kindheit verlebt, ich habe niemand weiter gekannt, der sich um mein Herz beworben hätte, und darum kann es wohl sein, daß ich keinen Menschen auf die wahre Art zu lieben verstehe, denn durch Geschwister lernen wir die Liebe, und in der Kindheit liebt das Herz am schönsten. – So bin ich hartherzig geworden und muß mich nun selber dem Zufalle verspielen, um die Zeit nur hinzubringen. Die schönste Sehnsucht ist mir unbekannt geblieben, kein brüderliches Herz weiß von mir und schmachtet nach mir, ich darf meine Arme nicht in die weite Welt hineinstrecken, denn es kommt doch keiner meinem schlagenden Herzen entgegen.«
Franz trocknete sich die Tränen ab, er unterdrückte sein Schluchzen. Es war ihm, als drängte ihn eine unsichtbare Gewalt aufzustehn, die Hand des Unbekannten zu fassen, ihm in die Arme zu stürzen und auszurufen: »Nimm mich zu deinem Bruder an!« Er fühlte die Einsamkeit, die Leere in seinem eignen Herzen, Ludovico sprach die Wünsche aus, die ihn so oft in stillen Stunden geängstigt hatten, er wollte seinen Klagen, seinem Jammer den freien Lauf lassen, als er wieder innerlich fühlte: Nein, alle diese Menschen sind mir doch fremd, er kann ja doch nicht mein Bruder werden, und vielleicht würde er nur meine Liebe verspotten.
Unter allerhand Liedern, gegen die der andächtige Gesang des Pilgers wunderlich abstach, gingen sie weiter. Roderigo sagte: »Mein Freund, du hast nun ein paarmal deines Vaters erwähnt, willst du mir nicht endlich einmal seinen Namen sagen?«
»Und wißt Ihr denn nicht«, fiel Rudolph hastig ein, »daß Euer Freund dergleichen Fragen nicht liebt? Wie könnt Ihr ihn nur damit
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