Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
würde, damit wir uns jeden Tag erkundigen können.‹
Und doch schreibt Lepel über das Unglück seines Vaters: ›Wir bekamen um halb elf die telefonische Mitteilung.‹
Dann gab es also doch Telefon. Wieder half der
Soester Courant
. Die neuen Umzüge und Telefonanschlüsse wurden monatlich in einer separaten Rubrik verzeichnet. Großvaters Anschluss – unsere alte, vertraute Nummer – war erst für Juni angekündigt. Aber es gab auch eine Rubrik ›Umgezogen‹. Dort suchte ich den Namen des vorherigen Bewohners von Vosseveld, des Herrn C. De Vries. Dessen Umzug in der Tat erst für Mai gemeldet wurde. Seine Nummer konnte also in den ersten Aprilwochen durchaus noch angeschlossen gewesen sein.
Folgende Frage: Wer hatte das Telefon auf Vosseveld in die Hand genommen? Lepel hatte ja ›wir‹ geschrieben.
Ich stellte mir die Situation vor. Der schwarze Bakelitapparat stand in der Diele. Im Kutschhaus war das Klingeln nicht zu hören. Lepel muss an dem bewussten Morgen also im Haupthaus gewesen sein. Dann konnte man annehmen, dass er dort einen Anruf
erwartet
hatte.
›Natürlich bin ich sogleich mit dem Fahrrad dorthin gerast, und wie ich es schon erwartet hatte, war das Bein gebrochen.‹ Eine Erwartung, die ihm nur durch den Anrufer oder die Anruferin eingegeben worden sein konnte.
›Es musste ein Röntgenbild gemacht werden, und er wurde dafür direkt zum Elisabeth-Krankenhaus gebracht.‹
›Direkt.‹
Ich sah es nach. Den einzigen Krankenwagen der Gegend, einen majestätischen Bentley, den Stolz von Soest, besaß damals das Taxiunternehmen Klomp am Koninginnenweg, nur einen Steinwurf von der Unglücksstelle entfernt.
Ich fuhr Lepels Route auf einem Mietfahrrad mit Gangschaltung ab. Lepel war vielleicht schneller geradelt, aber ohne Gangschaltung hatte er unmöglich schneller sein können als ich.
Ich brauchte eine gute Viertelstunde.
Zu dem Zeitpunkt, als Lepel in Soestdijk eintraf, konnte er also höchstens noch gesehen haben, wie sein Vater auf der Krankentrage festgebunden wurde. Danach nahm der Krankenwagen eilends Kurs auf Amersfoort – in die Richtung, aus der Lepel gerade gekommen war. Wenn der Krankenwagen um die Zeit nicht schon längst zum Krankenhaus unterwegs war.
Aber zu welchem Zweck war Lepel dann eigentlich noch gekommen?
›Der Krankenwagen ist gerade hier gewesen, um Ann mitzunehmen, und bringt Vater jetzt nach Amersfoort.‹
Lepel, wie ein Tornado nach Vosseveld zurückgeflitzt, kommt dort eine Viertelstunde später atemlos an, beginnt sofort, einen Brief an seinen Bruder Henk zu schreiben (an seinen Bruder – nicht an seinen Schatz Mary); wird mitten beim Schreiben aufgeschreckt durch die Ankunft immer noch desselben Krankenwagens – der dann wohl nach Vosseveld gekrochen sein muss, wenn er so viel später als Lepel ankommenwollte, und der sich außerdem den Umweg über Vosseveld leistet, um ›Ann mitzunehmen‹. ›Ann‹ – die die ganze Zeit schweigend neben ihrem schreibenden Stiefsohn sitzt und darauf brennt, ›mitgenommen‹ zu werden. Barer Unsinn. Die Schlussfolgerungen lagen auf der Hand:
Lepel hatte auf Vosseveld einen Anruf erwartet.
Der Anrufer oder die Anruferin kannte die alte Nummer von Vosseveld.
Der Anrufer oder die Anruferin war bei dem Unglück anwesend.
Der Krankenwagen war direkt nach Amersfoort gefahren und hatte den Anrufer oder die Anruferin mitgenommen.
Die Anruferin konnte einzig und allein Oma Annetje gewesen sein.
Lepel hat seinen Brief später geschrieben. Als Beweismittel. Als Alibi für Oma Annetje.
Lepel hatte von Anfang an Bescheid gewusst.
Ich durchforstete den
Soester Courant
von damals noch einmal, stieß aber – zwischen den durchgegangenen Pferden, gestohlenen Fahrrädern und nächtlichen Einbrüchen – auf keinen Bericht von Großvaters Unglück. Aber dafür auf eine andere interessante Meldung:
VANDALISMUS
Nach den vielen Zerstörungen, die vorige Woche in der Birktstraat begangen wurden, hat jetzt Dr. Wildvanck an der Van Weedestraat wieder bei der Polizei Anzeige erstattet wegen Zerstörung eines Schildes, das in seinem Garten aufgestellt war.
Doktor Wildvanck wohnte also auch in der Van Weedestraat. Seine Adresse fand ich im Telefonverzeichnis. Haus Nummer 17. Es steht noch. Schräg gegenüber Nummer 2.
Jetzt fügten sich die Teile zu einem Gesamtbild. Doktor Wildvanck war zur Unglücksstelle gerufen worden, hatte Erste Hilfe angeboten und den Krankenwagen gerufen, der sofort gekommen
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