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Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Titel: Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorinde van Oort
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Kirche. Sein Vater, seine Mutter. Was waren sie stolz auf ihn gewesen!
    Er hat sie ständig im Kopf. Besonders die paar Takte, die zu singen er jetzt nicht in der Lage ist – er kann jetzt nicht singen. Er spricht sie, flüstert sie, seinen Schritt den träge sägenden Kontrabässen anpassend:
     
    Meine Seele ist betrübt
    bis an den Tod.
     
    Er ist die Middelwijkstraat beinahe durch. Dann noch die Steenhoffstraat. Bei der Nummer 56 hat er vorige Woche die Passfotos machen lassen für seine Kennkarte. Was haben sie zusammen gelacht, Annetje und er, über die Anzeige im
Soester Courant:
     
    Wollen Sie nicht 5   Jahre lang
    ein hässliches Porträt
    in Ihrer
KENNKARTE
haben,
    dann lassen Sie Ihr Foto
    von Fotograf Drost machen.
     
    Er hatte noch einen Scherz gemacht über den Film, der angekündigt wurde:
Jagd ohne Gnade
, ob sie da nicht lieber hin sollten statt zur
Matthäus-Passion
im Concertgebouw.
    Was fühlen sich seine Beine schlapp an! Er verlangsamt seine Schritte, bleibt stehen, um Atem zu schöpfen, saugt seine Sängerlunge voll.
    Und setzt seinen Weg fort. Es ist weiter, als er dachte. Vorige Woche war er diese gleiche Strecke wie ein junger Spund gegangen. Er nähert sich der folgenden Kreuzung: dem Kruisweg. Der Kreuzweg. Dass ihm das nicht schon beim ersten Mal aufgefallen ist.
     
    Ich will den Kreuzstab gerne tragen.
     
    Er überquert den Platz mit der weißen katholischen Kirche. Jetzt ist er fast da. Links ist schon das Rathaus. Noch über die Gleise, dort beginnt die Van Weedestraat. Dann kann die Nummer 27 nicht mehr weit sein.
     
    Inzwischen, auf Vosseveld: Christiaan ist eben durch die Gartenpforte gegangen, die Allee hinunter, und Annetje blickt ihm vom Erker aus nach.
    Lepel ist aus dem Kutschhaus gekommen, als die Stimmen verstummt waren. Sie begegnen sich in der Diele. Er legt die Arme um sie. Sie schmiegt für einen Moment ihr Gesicht an seine magere Brust. Sie reden, gedämpft, und sie nickt.
    Sie fasst sich ein Herz. Lepel stößt die Glastür zur Vorhalleauf, in der es nach Silberputzmittel riecht, und hilft ihr in ihren Mantel. Dann schließt er die Haustür auf.
    Annetje geht, noch etwas humpelnd, zur Gartenlaube, um sich ihr Fahrrad zu holen. Lepel beobachtet vom Erker aus, wie sie schwankend aufsteigt und, überflüssigerweise, die Hand ausstreckt, bevor sie links abbiegt, in die Vosseveldlaan. Er starrt kurz hinaus, wendet sich dann um, geht aber nicht ins Kutschhaus zurück. Er setzt sich in die Diele, neben das Telefon, den Kopf in die Hände gestützt. Er wartet. Eine halbe Stunde. Länger. Eine Ewigkeit.
    Währenddessen radelt Annetje die Vosseveldlaan entlang und biegt links ab, die Birktstraat hinunter.
    Da geht er, Christiaan Mansborg, der berühmte Sänger im Ruhestand, ihr Ehemann. Sein Schritt ist federnd, seine hohe Stirn erhoben, der massige Leib etwas vorgebeugt im Schwung der Bewegung. Wie kommt es, dass er auf einmal etwas Lächerliches an sich hat, jetzt, da sie ihn von hinten beobachtet?
    Langsam radelnd hält sie sich hinter ihm, in sicherem Abstand. Er darf sich jetzt bloß nicht umsehen! Für den Fall, dass das doch passiert, hat sie sich schon eine Geschichte zurechtgelegt. Sie sei beunruhigt gewesen wegen seines Blutdrucks, das habe ihr gar nicht gefallen, er habe so blass gewirkt und so weiter. Er sieht sich nicht um. Sein Gang ist flott, fast geschmeidig.
    Sie hat ein paar von den Pillen in seinen Kaffee getan, dann noch die extra Tablette, bevor er ging. Sie werden seine Muskeln schwächen, seinen Gleichgewichtssinn durcheinanderbringen. Innerhalb einer Viertelstunde, schätzt sie.
    Aber er ist schon eine Viertelstunde unterwegs, und da läuft er immer noch.
    Zwanzig Minuten. Er geht jetzt schon die Kerkstraat hinunter, nähert sich der Oude Kerk – und bleibt stehen. Wankt er?
    Sie nimmt das Tempo noch weiter zurück, steigt ab, ihre Augen tränen vom angespannten Beobachten.
    Er liest in aller Seelenruhe eine Bekanntmachung, die an der Kirchentür klebt.
    Sie wartet, bis er seinen Weg fortsetzt. Jetzt geht es nach Soestdijk immerzu geradeaus. Da wird es gefährlich. Hoffentlich kann sie unbemerkt hinter ihm bleiben. Sie könnte den Kerkpad nehmen. Aber wenn sie es dann nicht mitkriegt, wenn er   …?
    Den Kerkpad, beschließt sie. Dann kann sie versuchen, ihn zu überholen; ihn an der Ecke vorbeigehen lassen, dann weiter zur nächsten Kreuzung. Dort wieder warten. So kann sie ihn unbemerkt aus einiger Entfernung beobachten.
    An der nächsten Ecke

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