Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
kämpfte?
Wenn es die Spuren ihrer Tante waren, die sie auslöschen wollte – vielleicht wegen der ungeklärten Beziehung, die diese mit ihrem Mann hatte –, dann hatte sie ihre Mission auf den ersten Blick drastisch erfüllt.
Aber die gewünschte Wirkung blieb aus. Das Haus blieb Oma Annetje treu. Es war zu hart erstritten worden. Es barg eine lebenslange Sehnsucht. Es verankerte Sünden, von denen Mary nichts wusste. Und ein Kampf gegen das Unbekannte ist nicht zu gewinnen.
Dass Vosseveld nicht nachgab, sah jedes Kind. Es schmollte. Es spottete. Es meuterte. Lieske schwor, dass sie nachts Geschlurfe hörte, böse Stimmen und Schritte. Beim Öffnender Bleiglastür schlug einem der alte Geruch der Vorhalle entgegen. In dem frisch getünchten Badezimmer oben brach unter dem neuen Putz der Decke eine sirupartige Substanz hervor, die am Heizungsrohr herunterkroch und ihren üblen Geruch an die Schränke abgab.
Der Staub, der sich jahrelang behaglich in Oma Annetjes Vorhängen, Kissen und Teppichen eingenistet hatte, fiel wie aus Rache in täglich neuen Wolken auf die kahlen Fliesen der Diele herunter. Hatte er früher in der Erde von Oma Annetjes Blumenbehälter ein organisches Unterkommen gefunden, so heftete er sich jetzt schmierig und wie gelangweilt an Marys Krimskrams, an ihren Plastikfarn und ihre Trockenblumensträuße.
Das Haus verlangte tägliches Saugen, Staubwischen und Nasswischen. Wenn es nur das gewesen wäre.
Der offene Kamin, der zu Oma Annetjes Zeit immer problemlos gezogen hatte, hatte nach den jüngsten Reparaturen am Dach zu rauchen angefangen. Ruß paktierte mit Staub.
Auch das war noch nicht das Schlimmste. Die neue Ölheizung schien der Feuchtigkeit nicht gewachsen, die, ungehindert von Marys Schaumstoffsichtungen, durch Scheiben und Fensterrahmen hereinsickerte, die Stufen der läuferlosen Treppe knarren ließ und Rost in die Scharniere jagte, die mit einem Geruch von modrigem Laub und Moos durch den Boden nach oben drang, in die Abflussrinnen tropfte und im Rieddach brütete.
Mary hatte ihren Kampf verloren. Im Geruch und Moder, in Feuchtigkeit und Staub triumphierten die Erinnerungen und das Gestern über das Heute.
Im Laufe der Jahre zeigten sich Anzeichen strukturellen Verfalls.
Der Tragebalken über dem Schornstein war eines Tages mit singendem Ton gebrochen. Das Rieddach drohte, mangelseiner soliden Unterstützung, die Fenster der Diele unter seinem Gewicht zu zerdrücken. In aller Eile wurden drei Stahlsäulen auf dem Rand des vormaligen Blumenbehälters angebracht und eine bei der Treppe, um die akute Einsturzgefahr zu bannen.
Auch kamen Absenkungen im Boden zum Vorschein, der, wie sich jetzt erst herausstellte, einfach so auf den Sand gelegt worden war. Dem Haus fehlte ein Fundament.
Im Herbst 1965 kam der Pfarrer, der sich an der verkehrten Haustür meldete, dann aber doch den Weg zu unserem unsichtbaren Seiteneingang zu finden wusste.
Ich öffnete ihm. Er stellte sich vor. Der Pfarrer? Niemand in diesem Haus war gläubig. Wollte der Mann uns etwa bekehren? Skeptisch ließ ich ihn herein. Als er Mary begrüßt hatte und ich auf seine befremdliche Bitte hin Lepel aus dem Kutschhaus und Jaap und Lieske aus ihren Zimmern geholt hatte, sprach er die Worte aus, die seitdem hundert- und tausendmal in meinem Kopf nachgehallt haben.
»Ein Unglück. Ein schwerer Unfall.« Ein Schweigen, das ein Lichtjahr dauerte. »Leider sehr schlimm.«
Der einzige Abwesende war Bennie. Sein Name brauchte nicht einmal erwähnt zu werden.
Ich bin auf Mary zugestürmt. Auf Mary, meine Mutter, ohne Zögern. Während Lepel doch auch in dem Raum war, und Lieske, und Jaap.
Sie wehrte mich ab: »Ach, Kind!«
Sie weinte nicht. Ich habe sie nicht weinen sehen. Sie war nicht einmal erstaunt. Als hätte sie es schon gewusst.
Aus den darauffolgenden Jahren gibt es die Fotos, die Jaap als Junge mit seinem allerersten Fotoapparat gemacht hat. Die weiße Fassade, vom Efeu befreit. Die tristen Augen der oberen Fenster. Im Frühling blass lächelnde Familienmitgliederim Garten. Im Sommer, eine zersprengte Familie auf der sonnenüberfluteten Terrasse. Im strengen Winter von 1967 / 68 Vosseveld im Brautkostüm, die Eiszapfen als Spitzenwerk unten am Rieddach; Mary auf dem schneebedeckten Rasen, ihr Blick an der Linse vorbei auf das Haus gerichtet.
Nicht lange danach kündigte sich Marys Krankheit an, als sie, in dem jetzt so unheimlichen Badezimmer, wo der stinkende Sirup aus den
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