Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
Wänden tropfte, zum ersten Mal ihre ominösen Knötchen fühlte.
Das Haus war mittlerweile verrottet, verzehrt, eingesackt unter seinem eigenen Gewicht. Stützen und Stangen nützten nichts mehr. Kurz vor dem Abbruch gaben Lepel und Mary einem Fotografen den Auftrag, das Interieur festzuhalten. Obwohl die Fotos überbelichtet sind, mit Schlagschatten nach allen Richtungen, und abgedruckt auf mattem Papier mit einer Maserung, hat der Mann wenig Ecken und Durchblicke ausgelassen. Es sind triste Fotos. Marys Offensiven waren nach hinten losgegangen. Die Möbel konnten den Raum nicht füllen. Die Wände waren zu weiß und zu leer, die Böden zu kahl, und Marys Schirmlampen und Krimskrams konnten den Eindruck fortschreitender Verspießerung nicht verdecken.
Ich war nicht dabei, als Vosseveld abgebrochen wurde. Auch Lieske nicht. Da ist nur der Brief, den Jaap uns darüber schrieb. Er hat als Letzter die Runde gemacht, war noch einmal an allen unseren Stellen gewesen. Hatte noch einmal den Lichtschalter umgedreht, unten an der Treppe, der immer zweimal gedreht werden musste, wenn jemand oben den Schalter gebraucht hatte. Hatte die Kachel mit der Seelandschaft aus dem Blumenbehälter herausgeschlagen, die danach noch jahrelang oben bei Lepel darauf wartete, in das Arnheimer Haus eingemauert zu werden, wozu dann aber niemand mehr gekommen ist wegen Marys Krankheit und Tod.
Jaap sah, wie die Bulldozer die Kiefern plattmachten, bevor sie die Mauern rammten und umrissen. Als er noch einmal zurückging, um bei den Nachbarn etwas abzuholen, stand da nur noch ein Querschnitt – die Hälfte des Hauses war bereits weggeschlagen.
Das Bild sucht ihn jetzt noch heim, in den Nächten, in Kanada, bis zum heutigen Tage.
Eine Rekonstruktion
Entgegen allen Erwartungen bekam ich doch noch Nachricht aus der psychiatrischen Anstalt Den Dolder. Großvaters Patientenakte war aufgetaucht. Einsehen durfte ich sie allerdings nicht. Aber ich durfte kommen. Mir wurden Teile daraus vorgelesen. So vernahm ich unter anderem die Diagnose.
Es war kein Notfall gewesen, keine Rede von Gefährdung für andere. Großvaters Einweisung wurde als ›erwünscht‹ erachtet wegen der Vermutung seiner Ehefrau, dass er, dieser bärenstarke, lebenslustige Mann, möglicherweise selbstmordgefährdet sei.
Als Symptome für seine Geisteskrankheit wurden Halluzinationen angeführt; Großvater habe ›Hunde bellen hören, die es nicht gab‹ (wer hatte das überprüft und wie?). Die ›Symptome‹ hatten schon im Mai begonnen, als der ›Patient‹ beim Pflücken von Pfirsichen merkwürdige Bemerkungen über die Nachbarn gemacht habe, die sie angeblich stehlen wollten.
Pfirsiche, im Mai. Als der Pfirsichbaum an der Seitenfassade gerade in Blüte stand.
Auch soll der ›Patient‹ seine Frau verdächtigt haben, Gift in sein Essen gemischt zu haben – ›Vergiftungswahn‹ wurden derartige Vermutungen genannt. Schließlich soll der ›Patient‹ immer gesagt haben: ›Ich bin nicht geisteskrank. Siesagen, dass ich geistesverwirrt bin, aber das stimmt nicht.‹ Vermutlich der überzeugendste Beweis für jemandes Geisteskrankheit.
Es wurde Zeit, mich in Großvaters Drama zu vertiefen. Wie er seinen Leidensweg erlebt hatte, ob er jemals begriffen hatte, was ihm geschah.
Jetzt, da sich meine schlimmsten Vermutungen bewahrheitet hatten, schienen auch andere auf einmal plausibel zu klingen. Die Vergiftungsversuche, das offene Fenster, die Lungenentzündung – sogar Großvaters Unfall, direkt nach dem Umzug, schien mir plötzlich verdächtig.
Zwar stimmten Lepels heutige Erklärungen mit seinem Brief an Onkel Henk vom 8. April 1941 überein: Großvater soll beim Einkaufen in Soestdijk über eine Schwelle gestolpert sein. Aber wie hatte sich das genau zugetragen?
Ich las seinen Brief noch einmal durch. Und noch einmal. Und fragte mich, wie ich bei jedem Durchlesen so viel hatte übersehen können.
Vater ging zum Einkaufen nach Soestdijk, und wir bekamen um halb elf die telefonische Mitteilung, dass er gestürzt sei und sich das Bein verletzt habe. Weedestraat 2b Soestdijk. Natürlich bin ich gleich mit dem Fahrrad dorthin gerast, und wie ich es schon erwartet hatte, war das Bein gebrochen. Er ist über die Schwelle eines Ladens gefallen! Es musste ein Röntgenbild gemacht werden, und er wurde dafür direkt zum Elisabeth-Krankenhaus gebracht. Der Krankenwagen ist gerade hier gewesen, um Ann mitzunehmen, und bringt Vater jetzt nach
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