Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
war, eine Fahrt von drei Minuten vom Koninginnenweg. Oma Annetje, die am Unglücksort war, hatte sich als verzweifelte Ehefrau auf den jungen Arzt gestürzt, der, wie aus dem Personenregister der Gemeinde hervorgeht, erst seit kurzem in Soestdijk praktizierte. Sie wird ihm zweifellos
en passant
ihre Zweifel bezüglich Großvaters Geisteszustand eingeflüstert haben, um eventuelle peinliche Enthüllungen von dieser Seite im Voraus zu entkräften – und Doktor Wildvanck war ihr auf den Leim gegangen.
Womit sofort klar wird, warum dieser selbe Doktor Wildvanck aus Soestdijk auch bei Großvaters Lungenentzündung ein paar Tage später hinzugezogen wurde und danach als Hausarzt galt, obwohl direkt gegenüber von Vosseveld noch ein Arzt wohnte: unser eigener Hausarzt, Doktor Veldkamp.
So wird auch plötzlich plausibel, wie dieser selbe Doktor Wildvanck bei Großvaters Zwangseinweisung mitwirken konnte, ohne dass in Den Dolder auch nur ein Hahn nach seiner ›Unabhängigkeit‹ gekräht hatte.
Bemerkenswert ist auch, dass Großvater nach Wildvancks Wegzug aus Soestdijk, Ende 1942, nie wieder in eine Anstalt gesperrt wurde. Der weniger manipulierbare Veldkamp hätte sich ohne dringende Notwendigkeit sicher nicht für etwas Derartiges hergegeben.
Jetzt fehlte nur noch ein Stück des Puzzles: der Ablauf des Unfalls selbst.
Könnte ich jetzt, da ich alles rekonstruiert hatte, doch nur einen Film daraus machen, die Szenen gegengeschnitten, und natürlich mit Musik! Eine Fuge! Großvater, Richtung Soestdijk gehend: der
basso continuo
. Annetje, die ihm hinterherfährt: der dramatische Alt. Lepel, aus dem Kutschhaus kommend, als die lauten Stimmen verstummt waren: der aufgeregteTenor. Und ich, Emma – die ungeborene Enkelin: der schrille Sopran. Der
cantus firmus
:
O Mensch, bewein’ dein’ Sünde groß.
Die oberste Stimme im Chor der Nachkommen, flehend, beschwörend:
Lasst ihn! Haltet! Bindet nicht!
Aber ich hatte keine Kamera, keinen Ton. Ich hatte nur Worte zur Verfügung, um alle meine Vermutungen und Erinnerungen und alle Briefe, die ich gelesen hatte, und alle mühsam gesammelten Dokumente zu einem Ganzen zu kombinieren.
Das letzte bittere Kapitel von Oma Annetjes Lebensgeschichte. In der die Hauptrolle Großvater zufiel, in seiner letzten, tragischen Rolle.
Der Kreuzweg
Es ist der Morgen des 8. April 1941. Die Sonne ist ungefähr um 7 vor 7 aufgegangen, so lässt sich, unter der Überschrift: »Wann muss verdunkelt werden?«, im
Soester Courant
lesen.
Es ist sonnig und mild, nach der Kälte der letzten Wochen.
Die linden Lüfte sind erwacht,
denkt Christiaan Mansborg skeptisch.
Nun muss sich alles wenden
. Und tatsächlich:
Alles hat sich ja gewendet.
Er ist um Viertel vor zehn von Vosseveld fortgegangen, wissend, wie lange man nach Soestdijk läuft. Er hat denselben Weg vor zwei Wochen schon einmal zurückgelegt, um sich ins ›Einwohnerregister‹ einzutragen als ›Hauptbewohner‹, weil er da noch der Annahme war, dass er Eigentümer des Hauses sei.
Seine Stimmung, während des vorangegangenen Spaziergangs, war geradezu euphorisch gewesen. Den Umzug hatten sie hinter sich, jetzt begann der Aufbau. Vosseveld hatte einen frischen Anstrich bekommen, die Fensterläden waren jetzt rot, grün und weiß gestrichen, die Pflaumenbäume und der Jasmin standen in voller Blüte. Sie hatten alle drei hart gearbeitet: Ann hatte Schränke eingeräumt und Vorhänge genäht, er hatte sich nützlich gemacht, indem er seine Bilder aufhängte. Dann hatte er seine Bücher und Noten in den Schränken untergebracht. Anns Warnung, sich wegen seinesBlutdrucks nicht zu sehr anzustrengen, hatte er in den Wind geschlagen. Er fühlte sich prächtig. Er hat gesungen und gespielt, während seine Ann vor dem offenen Kamin Bohnen putzte, ihr graues Haar silber glänzend in der Glut des Feuers, ihr geprellter Fuß auf dem Lederpuff, der Schmerz hatte zum Glück inzwischen schon nachgelassen:
Auf Flügeln des Gesanges, Herzliebchen, trag ich dich fort.
Er hätte besser singen sollen:
Die Liebe hat gelogen.
Jetzt geht er erbost durch die Vosseveldlaan, auf dem Weg zum Notar. Er hat keinen Blick mehr für die blühenden Bäume, keine Nase für ihren Duft, kein Ohr für die Amseln, die im Grün jubilieren. Er sieht alles wieder vor sich, wie sie, im vergangenen Dezember, den Kauf des Hauses besiegelt hatten, beim Notar Zwart, von dem Ann so schwärmt. Er hört wieder das komische Gemurmel beim Verlesen des Kaufvertrags, der,
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