Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
Termin beim Notar.
Lepel nimmt sofort ab.
»Ich bin in Soestdijk. Dein Vater ist gestürzt – gestolpert über eine – äh – eine Schwelle – er ist bewusstlos. Bein gebrochen –sieht nicht gut aus …« Aus dem Fenster kann sie Christiaan auf dem Trottoir liegen sehen. Wie eine Leiche. »Da kommt schon der Krankenwagen. Ich fahr mit zum Krankenhaus, aber mein Fahrrad … wo? Van Weedestraat, Nummer 2.«
Am Karfreitag, als Mary endlich zum ersten Mal nach Vosseveld kommen darf, liegt Christiaan mit seinem gebrochenen Bein schon oben im Bett.
Mary ist vernarrt in das Haus. Was für ein Pech jetzt für Onkel Christiaan, dass er so unglücklich gestürzt ist; aber trotzdem können sie von Glück reden. Es hätte viel schlimmer ausgehen können.
Mary will ihrem zukünftigen Schwiegervater guten Tag sagen. Sie geht die Treppe hoch und klopft an die Tür. Vielleicht ist ihre Tante Ann mit nach oben gegangen und hat aufgepasst, dass Christiaan nichts ausplaudern kann. Aber vielleicht schlief er ja sowieso, und Mary ist auf Zehenspitzen die Treppe wieder hinuntergegangen.
Auch in den Nächten, die sie im Gästezimmer mit der roten Lampe verbringt, ist Mary nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Wenn es Ärger gegeben hätte, hätte sie das durch die Holzwand gehört.
Sie bleibt bis Dienstag. Am 16. April, kurz nach ihrer Rückkehr nach Arnheim, hört sie von Lepel, dass der arme Onkel Christiaan jetzt ernsthaft erkrankt sei.
Und er bleibt krank. Bis weit in den Mai hinein. Sein Zustand ist schwankend. Die Lungenentzündung wird mit einem neuen Mittel bekämpft, einem Schwefelpräparat, das sofort hilft. Trotzdem kommt die Krankheit noch zweimal wieder.
Gegen Pfingsten hat er es überstanden, das Bein ist aus dem Gips, er lernt wieder gehen, mit einem Stock. Aber währendder Feiertage hat er plötzlich einen Rückfall und muss wieder das Bett hüten. Die Arnheimer kriegen ihn gar nicht oder nur wenig zu sehen.
Am Tag nach ihrer Abreise fühlt er seine Kräfte zurückkehren. Er ist ausgeruht, und kein Wunder. Er hat immerzu geschlafen. Was ist er müde gewesen, die letzten Tage.
Jetzt fühlt er sich wie neugeboren. Er hat ein wenig gesungen, jetzt will er in den Garten, den er seit Anfang April nicht mehr gesehen hat. Annetje fährt ihn in einem eilig geborgten Rollstuhl zur Laube. Dort sitzt er schön in der Sonne, geschützt vor dem Wind.
Jetzt, da seine alte Lebenslust wiederkehrt, ist auch die Erinnerung an seine missglückte Expedition nach Soestdijk wieder aufgetaucht. Der unbeholfene Sturz, danach die elende Lungenentzündung. Das Mittel, das er von Doktor Wildvanck bekommen hat, war offenbar gut. Es hat sofort geholfen. Aber die Nebenwirkungen. Alles schmeckte nach Gift und Tod. Er ist so krank davon geworden, so übel war ihm, dass er das Gefühl hatte, ihm würde sich der Magen umstülpen. Es ist ein Wunder, dass er noch lebt. Und Ann immer geschäftig, treppauf, treppab. Sie hat ihm tagein, tagaus einen kräftigen Trunk gebraut, ihn gewaschen und sauber gemacht, ihm seine Medikamente gegeben. Sie hat ihn da durchgeschleppt.
Er schaut in das volle Grün um ihn her, zu den gaukelnden Schmetterlingen, den fröhlichen Vögeln. Was hat er sich immer nach so einem Leben gesehnt. Dem Leben auf dem Lande. Pij hatte sich ja nie dafür erwärmen lassen, so wie sie an Amsterdam klebte. Trotz allem hat Ann gut daran getan, ihn dazu zu überreden. Die Probleme, die werden sie schon klären, hat sie ihm versichert.
Trotzdem muss er mit ihr reden, noch bevor Henk kommt, um die Steuererklärung für ihn zu machen. Sonst gehe ich doch noch zum Notar!, denkt er streitlustig.
Er hat Appetit. Sie hat ihm ein belegtes Brot versprochen. Sein Appetit ist zurückgekehrt, seine Arbeitslust – er hat wieder Lust auf alles – ja, auch auf Ann. Jetzt, da der Gips ab ist und er mit der Krücke so einigermaßen alleine zurechtkommt, wird der Rest auch schon wiederkommen. Wie lange ist es her, dass sie ihm zu Willen war? Hier draußen noch gar nicht. Noch kein einziges Mal auf Vosseveld. Er war zu krank. Sie hat immer im Gästezimmer geschlafen. Heute Morgen wollte er, aber sie hatte keine Zeit, sie musste aufstehen – gut, dann eben heut Abend. Aber dann gibt’s keine Ausrede mehr.
Während er auf Annetjes Rückkehr wartet, summt er ein Lied. Schuberts
Ungeduld
:
Dein ist mein Herz, dein ist mein Herz, und soll es ewig, ewig bleiben!
»Ann! Wo bleibst du?!«, lässt er seine Stimme durch die Bäume
Weitere Kostenlose Bücher