Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
steigt sie ab. Sieht ihn kommen. Er geht über die Kreuzung, langsamer jetzt. Mühsam.
Sie steigt wieder auf, tritt in die Pedale, bleibt ihm voraus, bis zur nächsten Ecke.
Es ist die Ecke vom Kruisweg. Sie sieht ihn schon kommen, immer noch aufrecht, jetzt mit finsterer Miene, aber langsamer, viel langsamer jetzt.
Er nähert sich dem Rathaus. Da sind schon die Eisenbahngleise, wo die Van Weedestraat anfängt.
Und wenn er es schafft? Sie muss ihn unbedingt stoppen! Sie muss einen Vorsprung bekommen. Sie muss vor ihm herfahren, Zeit gewinnen, versuchen, die Hände freizubekommen, ihr Rad irgendwo abstellen. Sie fährt die Steenhoffstraat hinunter, ohne sich umzublicken. Sie wagt es, radelt vor ihm her. Von hinten wird er sie schon nicht erkennen.
Sie hat die Gleise überquert. Beim erstbesten Haus steigt sie ab, einer Villa mit zwei Gartentoren. Die Auffahrt beschreibt wie auf Vosseveld einen Halbkreis. Es ist das Haus eines Korsettfabrikanten. Sie guckt, ob sie jemand von drinnen beobachtet, aber die Fenster sind leer.
Da kommt er.
Sie schätzt den Abstand, der sie noch trennt. Sie zählt die Häuser bis Nummer 27. Es muss das große freistehende Haus nach der Kreuzung sein. Da will er hin.
Jetzt noch ihr Fahrrad verschwinden lassen. Wenn sie niemanden sieht, sieht auch niemand sie. Sie schiebt ihr Rad kurzentschlossen durch das Tor in den Garten. Ein Schloss hat sie nicht. Das ist schlecht. In diesen barbarischen Zeiten werden einem Fahrräder sofort weggestohlen. Gerade jetzt. Sie lehnt es an die große Kastanie, wo es nicht so auffällt.
Da kommt er, ihr Ehemann. Es bleiben ihr nur noch Minuten. Was sie tun wird, weiß sie noch nicht. Auf jeden Fall muss es eine durchschlagende Wirkung haben. Sich auf ihn stürzen, ihm ein Bein stellen, ihn aufs Trottoir niederwerfen? In ihrer Krankenschwesterzeit hat sie gelernt, wie man mit schwierigen Patienten umgeht, die Griffe wurden ihr in der Ausbildung beigebracht. Aber es sind Menschen auf der Straße. Wenn jemand sie sieht!
Dann fällt ihr etwas ein, blitzartig. Etwas viel Schlaueres.
Sie postiert sich hinter der großen Kastanie.
Er kommt vorbei, passiert den Zaun.
Sie springt hinter ihm hervor und ruft, in einem tiefen, gequälten Ton: »Christiaaaaan!« Eine Stimme aus der Gruft!
Er bleibt wie erstarrt stehen. Sein Name. Träumt er? Wer war das? Ann? Er dreht sich ein Stück mit dem Oberkörper, um die Stimme zu orten, ohne die Stellung seiner Füße zu verändern. Es reißt etwas in seinem Schienbein. Er greift nach seinem linken Unterbein. Er strauchelt, fällt, das Bein knickt unter seinem schweren Körper ein. Sein Kopf sackt nach hinten.
Da liegt er bewegungslos auf dem Trottoir, mit kreideweißem Gesicht, geschlossenen Augen. Nur seine grauen Locken bewegen sich sachte in der Brise.
Annetje stürzt sich auf ihn. Er ist bewusstlos oder …
»Hilfe! Ein Arzt!«, ruft sie laut und winkt.
Ein Passant rennt zur anderen Seite, wo ein Arzt wohnt, Doktor Wildvanck, in der Nummer 17.
»Der Doktor wird gerade verständigt«, ruft jemand.
Christiaan atmet noch. Seine mächtige Brust hebt und senkt sich.
Ein kleiner Mann in einer weißen Jacke kommt von der anderen Seite herbeigeeilt. Annetje steht auf, geht ihm entgegen, klammert sich an ihn und fängt an zu jammern.
Der Arzt kniet neben Christiaan Mansborg nieder, fühlt seinen Puls, zieht an seinen Schultern und kann das gebrochene Bein so befreien. Er legt es vorsichtig gerade. Er krempelt das Hosenbein hoch, befühlt Schienbein und Knie.
»… frühere Krankenschwester …«, stammelt Annetje. »Er war heute Morgen schon so verwirrt, ich wollte ihn nicht gehen lassen, er ist …« Sie schlägt die Augen gen Himmel und lässt den Zeigefinger an ihrer Schläfe kreisen.
Doktor Wildvanck nickt.
»So, wie sich’s anfühlt, ist es ein doppelter Bruch«, lautet seine Diagnose. »Ich lass ihn nach Amersfoort bringen.«
Christiaan ins Krankenhaus – was jetzt? Ohne sie. Was ist, wenn er zu sich kommt, die ganze Geschichte erzählt, begriffen hat, zu welchem Zweck sie gekommen war? Sie musste, koste es, was es wolle, bei ihm bleiben. Also mit dem Krankenwagen mit. Aber ihr Fahrrad. Sie kann dem Doktor nicht gut erklären, wie das da hingekommen ist.
Lepel anrufen, sofort. Sie fragt den Arzt (oder vielleicht einen anderen Einwohner), ob sie sein Telefon benutzen darf, um ihren Stiefsohn anzurufen. Sie wählt die Nummer von Vosseveld. Es ist punkt halb elf – die Zeit von Christiaans
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