Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
schallen. Zwischen den Kiefern hindurch kann er das Haus sehen, das charmante Rieddach, den Erker, die Fenster seines Musikzimmers mit den rot-weiß-grünen Fensterläden. Dahinter Lepels Kutschhaus.
Da hört er Ann rufen, irgendwo in der Ferne, beim Haus. Ruft sie ihn? Nein – den Gemüsehändler. Er hat mit seinem alten Klepper vor dem Tor haltgemacht, er sieht Ann mit dem Korb zur Straße gehen, um selber die Kartoffeln und das Gemüse auszusuchen. Das kann dauern.
Er gähnt, streckt sich, räkelt sich behaglicher in seinen Stuhl hinein. Er legt sein Bein auf dem Lederpuff, den ihm Lepel gebracht hat, in eine bequemere Stellung. Er saugt den Blütenduft ein, saugt seine Lunge voll. Der krumme Apfelbaum, den er bis jetzt nur kahl gesehen hat, ist in Wolken von Grün gehüllt – was ist er doch lange nicht mehr im Garten gewesen.
Schumann kommt ihm in den Sinn:
Du junges Grün, du frisches Gras, wie manches Herz durch dich genas
. Die violetten Blüten des Silberblatts sind zwischen den Farnen unter denKiefern emporgeschossen und strahlende Kandelaber von Weiß, Lila und Rosa: Fingerhut.
Was Ann in den Beeten gesät hat, beginnt schon hochzukommen: Lupinen, ostindische Kirsche.
Die linden Lüfte sind erwacht. Nun muss sich alles, alles wenden!
Alles hat sich schon gewendet – das hat er schon mal gedacht. Ja. Auf seinem Marsch nach Soestdijk. Als er so zornig war auf Ann. Als er an ihrer Liebe gezweifelt hatte …
Es erinnert ihn an Pijs Brief, den er noch immer nicht gelesen hat. Er spürt den Brief in seiner Westentasche. Er hat ihn heute Morgen geöffnet, wollte ihn aber nicht in Anns Gegenwart lesen. Es wird wohl wieder das alte Lied sein: Ann, eine Intrigantin – Ann, eine Schlange – Ann und ihre Vergangenheit.
Nach Jahren tiefster Vertraulichkeit – als Ann
une ange
war, die Erste, zu der Pij gerannt war, wenn es mal wieder schlecht stand zwischen ihnen – war sie jetzt ›die Schlange von Soest‹.
›Meinen Mann weggenommen, jetzt auch noch meinen Sohn‹ usw. usf.
Er muss zugeben: Etwas Wahres war da schon dran. Lepel hat sich für Ann entschieden, gegen seine Mutter. Schon als kleiner Junge war er ganz vernarrt in sie gewesen. Bei den Nachbarn war es so viel lustiger als zu Hause – er war immer mit seinen Schülern zu Hause, Pij ging ihren eigenen Beschäftigungen nach. Selten Gäste, wenig Besuch. Das vornehme Haus vom alten Oud, das immer für jeden offenstand; die schicke Einrichtung, die berühmten Söhne, die Geschenke und die elegante Ann, Mittelpunkt und herzliche Gastgeberin. Wenn sie dort streng genommen auch ›nur‹ die Haushälterin war, aber das war für einen Außenstehenden nicht zu merken. Oud hatte sie höchstens mal in den Hintern gekniffen. Das hat Ann sich dann wohl gefallen lassen, wenn auch nicht gern.
Unbegreiflich eigentlich, dass Oud sie nicht geheiratet hat,als seine Frau dann gestorben war. Aber die Söhne mochten Ann einfach nicht. Die wollten auch nicht, dass sie erbte. Deswegen die schlauen Manöver von diesem Notar Zwart – behauptete Ann. Ihr zufolge hatte Oud die Söhne umgehen wollen und darum das Geld noch zu Lebzeiten ihm – Christiaan – überwiesen.
Aber wenn der alte Oud das so bezweckt hatte, hätte er ihm das doch wohl gesagt? Immerhin wurde von ihm eine Gegenleistung für das Geld erwartet. Es war eine Belohnung für sein Versprechen, dass er Ann heiraten würde. Oud wusste doch, dass sein Geld auch Ann zugute kommen würde – deswegen hatten sie das Haus doch auch zusammen gekauft – dachte er.
Jetzt, da seine Kräfte zurückgekehrt sind, kommt auch Christiaans Zorn wieder hoch. Böse Absicht. Sie hat gut für ihn gesorgt während seiner Krankheit, sicher. Aber muss er sich das gefallen lassen? Er blickt auf, als der Klepper des Gemüsehändlers weitertrottet. Da kommt sie also, Ann. Aber was soll das denn? Mit leeren Händen?
›Ich hab Hunger!‹, brüllt er aus seiner vollen, freigesungenen Brust.
›Ich bin noch nicht dazu gekommen!‹, ruft sie.
Er blickt ihr nach, wie sie zurückeilt, zwischen dem Grün, zurück zum Haus, sieht ihre volle Figur, die unter ihrem geblümten Kleid wippt und wackelt. Graue Haarsträhnen haben sich aus ihrem Knoten gelöst. Er grinst. Jetzt, da er doch noch ein bisschen Zeit hat, holt er Pijs Brief aus der Tasche und liest.
›… ein neues Leben? Hast Du gedacht, Du kannst die Vergangenheit einfach ungestraft auslöschen? Hast Du Dir mal Gedanken über Anns Vergangenheit gemacht, von der
Weitere Kostenlose Bücher