Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
aber die Idee der Beets’schen Tanten war gar nicht so abwegig. Vielleicht waren all die Kommentare und Hinweise von Oma Annetje ja für mich bestimmt? Sie hatte schließlich gewusst, dass ich schreibe.
Das Leben einer Hundertjährigen
. Die Idee ließ mich nicht mehr los. Gleich bei meinem nächsten Besuch holte ich mir die restlichen Dokumente, die noch bei meinem Vater herumlagen.
Wenn ich da schon geahnt hätte, wie viele Jahre das in Anspruch nehmen würde: das endlose Graben in Archiven, die vielen Reisen zu den unwahrscheinlichsten Orten, das stundenlange Brüten über Fotos, die nicht immer einfachen Gespräche mit widerwilligen Familienmitgliedern; hätte ich gewusst, zu welch düsteren Schlussfolgerungen mich das letztendlich bringen würde – dann hätte ich es mir wohl zweimal überlegt, ob ich mich auf dieses Abenteuer einlassen sollte.
Zuallererst wollte ich eine Inventur der Fotos aus dem Album machen.
Das früheste Bild von Oma Annetje stammte aus dem Jahr 1902, zwischen ihren beiden Schwestern. Annetjes SchwesterVera ist darauf achtzehn, Annetje zwölf, Jopie erst acht. Es war die Zeit der glücklichen Jugend, von der alle drei so schön erzählen konnten und die – wenn man ihnen glauben wollte – aus lauter Eislaufpartien, Pfannkuchen backen und ausgelassenen Festen bestand, mit Brüdern, die ihre Schwestern mit Aufmerksamkeiten überhäuften und die nettesten Freunde mit nach Hause brachten.
Das Foto vom Eislaufen schloss sich schön daran an: Mädchen in langen Röcken, die über eine Eisbahn schweben – obwohl ich nicht mit Sicherheit wusste, ob das tatsächlich Annetje, Vera und Jopie waren. Und die Jungs auf dem Schlitten? Welche von den vielen Brüdern waren das nun genau? Es hätte ebenso gut ein Schnappschuss aus späteren Jahren sein können, zum Beispiel von Veras Söhnen Jan, Rob und Piet, die wahllos in dem Album herumgeisterten. Die sogar willkürlich auf leeren Stellen eingeklebt worden waren, wo andere Fotos abgerissen oder mitsamt dem Karton herausgeschnitten worden waren.
Bei näherer Betrachtung schien Oma Annetjes ganzes Album ziemlich chaotisch. Mitten in den wilden zwanziger Jahren fand ich einen Schnappschuss von 1907, dem Jahr von Veras Heirat mit Jacob Vlek. Das junge Paar war nach der Hochzeit nach Arnheim gezogen, wo Jacob seine Fabrik gründete. Vera sitzt hinter ihrem Teetablett, auf dem ein Service aus Jacobs Fabrik prunkt. Annetje, in einer weißen Schürze, muss gerade auf einen Sprung aus dem nahe gelegenen Elisabeth-Hospital herübergekommen sein, wo sie Tante Tini zufolge in ihren Arnheimer Jahren als Pflegekraft gearbeitet hat. Sie ist neunzehn, ihr Gesicht ist noch kindlich rund und auch die Figur ist recht füllig.
Irgendwo hinten steckte noch ein Porträt ihrer älteren Schwester Vera aus dem Jahr 1900. Vera, mit achtzehn Jahren bei einem Vortragsabend deklamierend, ihre üppige Figur in einem gestreiften weißen Kleid, ihre Haare zu dicken Zöpfengeflochten, routiniert gestikulierende Hände. Ihre Stimme mit dem singenden Tonfall, die mir so vertraut war, konnte ich beinahe hören. Vera war ein Star auf den Purmerend’schen Brettern. Oma Annetje ja auch.
Auf Grundlage der dürftigen Informationen, die ich jetzt hatte, begann ich mit einer kurzen Skizze von Oma Annetjes Jugend.
Frau im Schatten
Annetje Beets wurde am 25. August 1888 geboren und starb im März 1988, beinahe hundertjährig.
In diesem langen Leben hat sie sich keinen großen Namen gemacht, keinen Ruhm erworben, nichts geleistet, was ein Buch über sie rechtfertigen könnte. Sie lebte eher im Schatten von Menschen, die größer, berühmter und mächtiger waren als sie. Und doch hat sie das Leben vieler entscheidend bestimmt.
Annetjes Vater, Pieter Beets, war ›Lieferant‹, später ›Kapitän des Alkmaarer Paketdienstes‹. Er war vierundzwanzig, als er die neunzehnjährige Maartje Klopper ehelichte, die damals schon im vierten Monat schwanger war. Ihre Tochter Vera wurde im März 1882 geboren, 1883 folgte Simon, 1885 eine Annetje, die allerdings im Mai 1888 verstarb. Drei Monate nach ihrem Tod kam eine zweite Annetje. Es folgten noch fünf Söhne und eine Tochter, Jopie (die Mutter meiner Mutter). Zehn Kinder also, von denen neun überlebten.
Eine hohe Kindersterblichkeit war zu jener Zeit nichts Ungewöhnliches. Der Begriff ›Ersatzkind‹ war damals noch nicht im Schwange, galt aber schon uneingeschränkt: Dass ein Kind, das in Trauer geboren wird, doppelt so
Weitere Kostenlose Bücher