Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
offiziellen Foto aus dem bewussten Jahr 1909 steht H. C. Oud in vollem Ornat da: achtundvierzig Jahre alt, klein und stämmig, mit Schnurrbart und Melone, in tadellosem Anzug mit Weste, an seinem Arm eine noch kleinere, gesetzte Dame, mit einem freundlichen Gesicht und dunklen Augen unter ihrem großen Federhut.
Das Ehepaar Oud hat drei Söhne. Der älteste, Piet, der späterePolitiker, ist dreiundzwanzig. Er hat schon auf der
Hogere Burgerschool
in Amsterdam das Mädchen kennengelernt, mit dem er jetzt verlobt ist; er hat seinen Wehrdienst geleistet, Notarrecht studiert und seine ersten Schritte auf dem Weg der Politik getan. Den Januar zuvor hat er vor der Protestantischen Wählervereinigung
De Vrijheid
in Purmerend noch einen Vortrag gehalten mit dem Titel
Die politische Lage
. Dabei wurden ausnahmsweise auch Damen unter dem Publikum gesichtet. Es ist nicht einmal undenkbar, dass Annetje unter diesen Damen gewesen sein könnte.
H. C. Ouds zweiter Sohn ist neunzehn. Ko studiert an der Grafischen Schule in Amsterdam, wo er von dem berühmten Architekten H. P. Berlage unterrichtet wird. Ko soll sich dann auch zu einem Architekten von Weltruhm entwickeln. Er ist mit seiner Cousine Lous verlobt.
Der dritte Sohn, Gerrit, arbeitet in H. C. Ouds Getränkehandlung in der Dubbele Buurt und wird gleichzeitig als designierter Nachfolger seines Vaters in die Geheimnisse des Bank- und Versicherungswesens eingeweiht.
Als Annetje an einem Spätherbsttag im Jahr 1909 in Ouds Büro über dem Zigarrenladen vorstellig wird, hat Vater Beets seinem Freund bereits etwas zugeflüstert über die teure Schwesternausstattung, die Annetje unmöglich aus eigener Tasche bezahlen kann.
H. C. Oud begrüßt sie herzlichst. Sosehr er dem Billardspielen und einem guten Glas zugetan ist, für weibliche Schönheit hat er eine noch größere Schwäche. Wie sie da jetzt vor ihm steht in ihrem eleganten Mantel, den Hut halb über die Augen gezogen, können ihm ihre Reize nicht verborgen bleiben. Er mustert sie von Kopf bis Fuß, kneift ihr in die Wange, bewundert das Grübchen in ihrem Kinn, das er so charmant findet. Er sieht, dass aus dem Mädchen eine junge Frau geworden ist, und eine, die weiß, was sie will. Er erlaubt sich einen frechen Scherz. Annetje, die größer ist als er, wirftden Kopf zurück und schleudert ihm einen flammenden Blick zu; denselben Blick, mit dem sie ganze Säle in ihren Bann gezogen hat.
H. C. Oud mag Frauen mit Pepp. Annetje besitzt die drei Eigenschaften, die er am meisten bei einer Frau bewundert: Talent, Zartheit und Temperament.
Sie legt los. Oud hebt beschwichtigend die Hand. Aus seiner Schublade holt er das Dokument, das er bereits aufgesetzt hat. Es ist eine Vereinbarung für ein großzügiges Darlehen, zinslos, in vier Raten zurückzuzahlen, die letzte nach ihrem Abschluss. Annetje wird in Utrecht, neben freiem Wohnen und Badbenutzung, ja ein bescheidenes Gehalt verdienen.
Annetje liest das Dokument. Sie blickt auf. Sie nickt – dankbar, erfreut. Es ist mehr, als sie selbst zu verlangen sich je getraut hätte.
Oud lässt seinen dicken Montblanc eine Weile über dem Papier kreisen, setzt dann seine unlesbare Unterschrift unter den Vertrag. Er überreicht Annetje feierlich den Füllfederhalter. Sie klemmt ihn zwischen Zeige- und Mittelfinger und setzt ihr eigenes schwungvolles Autogramm unter seines.
Damit ist ein Bund besiegelt, der ein Leben lang halten wird und der nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das von anderen einschneidend beeinflussen wird.
Aber das ahnt Annetje noch nicht. Sie verlässt das Büro wie auf einer Wolke. Sie umarmt Frau Oud, die ihr in der kleinen Küche einen Kaffee serviert. Sie plaudern noch etwas, dann geht sie. Jetzt kann sie die Einkäufe tätigen, bei denen Vera ihr helfen wird. Das blaue Leinen für die Uniformen, das weiße für die Schürzen. Die vorgeschriebenen Knöpfe, Ärmel, Kragen und Manschetten; den Stoff für ihre Sonntagskleider, Schlafsachen, Strümpfe und Schuhe; einen Sommer- und einen Wintermantel; einen Hut für wochentags und einen für sonntags.
In den letzten Wochen des Jahres 1909 ist Annetje wie eineVerrückte mit Nähen beschäftigt. Vera hilft mit Schneiden und Säumen. Was fertig ist, packen sie in den Kabinenkoffer, den Annetje zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag von ihren Eltern bekommen hat.
Kurz vor ihrer Abreise lässt sie Passfotos machen, die später mit kleinen Variationen in diversen
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