Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
mit meiner Mutter. Er war gerade erst zwanzig, als Großvater eingewiesen werden musste. Das war ein traumatisches Erlebnis für ihn.«
Mein Blick blieb an den beiden Männern hängen. Es sah so aus, als hätten sie sich gestritten. Onkel Piet war böse, weil mein Vater ihn nicht mehr zu seiner Tante gelassen hatte, um Abschied zu nehmen.
»Einfach Arterienverkalkung«, sagte Martin Mansborg, der Sohn vom seligen Onkel Johan.
»Ach was«, widersprach seine Frau. »Dein Vater hat sich jabei Ann noch haarklein erkundigt, als ihr nach dem Krieg aus Indonesien wiedergekommen seid. Das kam von den Medikamenten, die …«
»Emma! Mit dir hab ich ja noch gar nicht gesprochen«, unterbrach eine Beets’sche Tante vergnügt unser Mansborg-Palaver. »Toll, deine Serie über die
Éminences Grises
. Sag mal, warum schreibst du nicht ein postumes Porträt deiner Großmutter? Sie hatte ja ein bewegtes Leben, und sie konnte so herrlich über ihre Zeit als Krankenschwester erzählen.«
Ich lachte. Oma Annetje war zwar beinahe hundert Jahre alt geworden, aber abgesehen von den paar Jahren in der Pflege hatte sie wenig anderes getan als alte Herren versorgt. Auf so was hatten die bei
Neerlands Diep
gerade gewartet. In Gedanken war ich noch bei den widersprüchlichen Theorien, die über Großvaters Geistesverwirrung die Runde machten. Und so ergriff ich die Gelegenheit, diese Tante zu fragen, ob sie sich noch an irgendwas davon erinnere.
»Du meinst seinen Aufenthalt in Den Dolder? Ja, das haben wir selber aus nächster Nähe erlebt. Welches Jahr war das gleich? Ich komm nicht mehr drauf. Es war im Krieg, so viel weiß ich noch. Tante Ann und Onkel Christiaan wohnten noch nicht so lange auf Vosseveld. Wir sollten das Haus besichtigen kommen, aber die Verbindungen waren damals sehr schlecht, und es dauerte etwas, bis was daraus wurde. Es war gerade Hochsommer. Wir waren überrascht, dass Onkel Christiaan nicht da war. Anscheinend war er gerade am Tag zuvor nach Den Dolder gebracht worden. Warum? Es hatte, glaube ich, einen Wortwechsel gegeben, einen Wutausbruch. Onkel Christiaan war aggressiv gegen Tante Ann geworden oder so.«
»Wegen so was steckt man einen doch nicht in die Anstalt.«
»Tja. Anscheinend doch. Ann wusste sich keinen Rat mehr, und so blieb ihr wohl nichts anderes übrig. Vergesst nicht, es war ja auch Krieg. Damals gab es noch nicht die medizinischenMöglichkeiten von heute. Tante Ann hat übrigens gar nicht viel Aufhebens davon gemacht. Wir haben sogar noch Billard gespielt, erinnere ich mich. Wenn ihr mich fragt, war es ein Sturm im Wasserglas. Und nach ein paar Wochen durfte Onkel Christiaan ja auch schon wieder heim.«
»Und danach?«
»Was danach?«
»Ist dir davor oder danach irgendwas Merkwürdiges an ihm aufgefallen?«
Die Tante überlegte. »Nein. Nein. Wir waren oft auf Vossenveld, und es war immer sehr nett. Tante Ann war eine erstklassige Gastgeberin und Onkel Christiaan hat oft für uns gesungen und gespielt. Nein – wie gesagt: Es muss ein Sturm im Wasserglas gewesen sein.«
Als alle voneinander Abschied genommen hatten und auch mein Vater Anstalten machte, aufzubrechen, sagte ich kurz entschlossen: »Ich komm noch auf einen Kaffee mit zu dir.«
Ich stieg zu ihm ins Auto. Er reagierte nicht gerade begeistert, und als ich sagte: »Ich wollte dich noch was fragen«, entgegnete er kurz angebunden: »Jetzt mal nicht reden, ich muss mich auf den Verkehr konzentrieren.«
Als ich das Haus betrat, wurde mir klar, warum mein Vater nicht gerade scharf war auf meinen unerwarteten Besuch. Oma Annetjes großer Kabinenkoffer stand geöffnet auf einem dicken Teppich, ihre Briefe und Fotos waren überall auf dem Boden verstreut und der Papierkorb neben dem Schreibtisch war vollgestopft mit ihren Papieren. Darunter ihr Krankenschwesterdiplom, ihr Pass und das schwarze Notizbuch, sogar ihr kleines weißes Kreuz, ihr Schwesternabzeichen, und das
Ooievaartje
(Störchlein), auf das sie so stolz gewesen war.
»Aber Papa! Das wirfst du doch nicht etwa alles weg? Es war abgesprochen, dass wir das zusammen durchsehen.« Ich zog aufs Geratewohl ein Dokument heraus.
Übertragungsurkunde
,las ich. Ich entfaltete sie. Es war der Kaufvertrag für Vosseveld.
Am heutigen Tage, dem 15. November 1940, erschienen vor mir, Johannes Zwart, Notar zu Amsterdam, persönlich die folgenden Zeugen: Herr Lois François Liera, Altkapitän der Genie, wohnhaft in Zeist, einerseits, und Frau Annetje Mansborg, geborene
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