Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
Hendrik persönlich soll vor dem Kamin in der Diele seine königlichen Beine ausgestreckt haben, nach Jagdausflügen mit Freunden in den umliegenden Wäldern. Der gekachelte, mit Blumen gefüllte Pflanzenbehälter in der Diele soll früher einmal Dienst getan haben als Trinktrog für seine Pferde. Und sein Gefährt war, so hieß es, im Kutschhaus untergebracht – einem kleinen Replikat des großen Hauses, mit dem gleichen Rieddach, aber mit riesigen Türen. Oma Annetje hatte jedem, der es hören wollte, die Geschichte erzählt, und Besucher nahmen sie ihr ohne Weiteres ab: »Pferde! Prinz Hendrik! Ein Trinktrog! Ein Kutschhaus!« Doch mein Vetter Philip wusste die Legende rückwirkend grausam zu demontieren. Er hatte mal einen Grundriss des Hauses gesehen. »Es wurde 1910 als kleiner Landsitz gebaut. Es gab nur
ein
Wohnzimmer unten (das Vorderzimmer) und
ein
Schlafzimmer oben (das alte Gästezimmer). Sage und schreibe eine Fläche von sechs mal vier Metern. Sollte es damals schon eine Toilette und eine Küche gegeben haben, müssen die in dem kleinen Anbau gewesen sein, der bei der Erweiterung im Jahr 1923 verschwand, als die Diele und die neue Küche angebaut wurden. Über der Diele kam damals das zweite Schlafzimmer hinzu, das mit dem Balkon.«
Von wegen Teepavillon. Von wegen Trinktrog für Pferde.
»Wie hätten die übrigens überhaupt hereinkommen sollen?«, sagte mein boshafter Vetter. »Wohl durch die kleine Vorhalle, wie?«
»Und das Kutschhaus?«, fragte meine Schwester Lieske enttäuscht.
»Das wurde im Bauplan nicht einmal erwähnt. Das heißt wohl, dass es später illegal dazugebaut wurde. Allenfalls die hohen Türen könnten aus dem Abriss eines alten Kutschhauses stammen.«
Blieb die Frage, ob Wilhelminas jagender Gemahl überhaupt jemals einen Fuß in das Haus gesetzt hatte.
Wir erinnerten uns an Großvaters achtzigsten Geburtstag, kurz vor seinem Tod. Es kamen viele ehemalige Schüler, das Haus stand voll mit Blumensträußen, der Postbote brachte ständig neue Glückwunschtelegramme und es erschien sogar ein Fotograf. Verschiedene Zeitungen brachten Berichte und abends fand das große Familienfestessen statt.
»Wir Kinder saßen an einem Extratisch«, wusste meine Schwester noch. »Onkel Henk hat damals auch eine Rede gehalten.«
»Damals ging’s ihm noch bestens«, sagte mein Vetter Philip.
»Onkel Henk?«
»Nein, Großvater.«
»Er hat mich auf den Schultern herumgetragen«, erinnerte sich Lieske, obwohl sie damals erst sechs gewesen war. »
Drei Monate später war er tot«, bemerkte jemand.
Philip sagte: »Die Todesursache wurde nie festgestellt.«
»Einfach Altersschwäche«, sagte jemand. »Immerhin war er achtzig.«
»Er war geistig verwirrt«, sagte Lieske. »Vielleicht hatte es damit zu tun.«
»Habt ihr eigentlich jemals irgendwas davon gemerkt?«, fragte mein Vetter.
»Er konnte manchmal verrückte Dinge von sich geben«, sagte meine Schwester in die plötzliche Stille hinein. »Einmal saßen wir am Tisch und aßen Obst, und dann sagte er plötzlich: ›Ach Pflaume, was machst du mir Laune.‹ Ohne die Miene zu verziehen. Wir versuchten, uns das Lachen zu verkneifen, aber dann mussten wir umso heftiger losprusten.«
»Er war halt ein bisschen senil«, sagte eine der Tanten. »Alzheimer oder so etwas.«
Doch Philip wusste es besser. »1941, als es anfing, war er erst achtundsechzig. Wenn es Alzheimer gewesen wäre, hätte es sich im Laufe der Jahre verschlimmern müssen, und das ist gerade …«
»Ich kannte ihn eigentlich kaum«, sagte mein Vetter Peter, der Sohn von den
Indiërs
. »Wir sind ja erst 1950 aus Indonesien zurückgekommen. Das hat meine Eltern übrigens auch sehr geärgert. Sie haben es nie geschafft, mal mit ihm allein zu sein. Immer war Ann dabei.«
Eine Nichte der Beetsens mischte sich jetzt in unser Gespräch. »Onkel Christiaan? Ja, der war sehr seltsam. Der ging manchmal ins Dorf und klingelte bei allen möglichen Nachbarn.«
»Und dann?«, fragte Philip. »Kamen sich die Nachbarn beschweren?«
»Nein, aber ich weiß noch, dass Tante Ann es erzählt hat.«
»Das müsste doch eigentlich dein Vater wissen«, sagte Peter zu mir. »Der war doch von Anfang bis Ende dabei.«
Ich sah zu meinem Vater hinüber, der sich auf dem Sofa mit Onkel Piet Vlek unterhielt, Oma Annetjes Lieblingsneffen, der immer noch etwas niedergeschlagen dasaß.
Ich murmelte: »Lass lieber die Finger davon. Das ist tabu. Mein Vater wollte nie darüber reden, nicht einmal
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