Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
in der schönen, allerdings beinahe unentzifferbaren Handschrift von Lous Oud:
Und wegen dem, was Du am Telefon gesagt hast: Mach Dir deswegen keinen Kopf. Die Geschichte? Was meinst Du damit? Da redet doch schon lange niemand mehr drüber. Und einer wie Christiaan, auf den konntest Du stolz sein. Die Zeit seiner Krankheit musst Du vergessen. Was für ein Unsinn, was sollst Du denn für eine Schuld dran haben? Solche Dinge passieren nun einmal, und er hat seine guten Zeiten gehabt. Besonders die ältere Generation hat ihn noch gehört, wenn auch nur als Jesus in der
Matthäus Passion
. Und vergib mir, dass ich das sage – alles inallem ist es Dir doch gut ergangen. Du konntest Vosseveld genießen, solange es währte. Irgendwann hat alles ein Ende, und Du musst doch einsehen, dass Du es schon lange nicht mehr allein geschafft hättest …
Eine Geschichte. Deren Einzelheiten selbst Lous Oud anscheinend nicht kannte.
Auch diesen Brief nahm ich an mich.
Ich tigerte ein bisschen im Zimmer herum, leicht verärgert. Warum hatte mein Vater sich nicht an unsere Absprache gehalten? Er sollte doch nichts von Oma Annetjes Sachen wegwerfen, bevor ich sie mir nicht angeschaut hatte!
Als ich am Kamin vorbeikam, nahm ich Brandgeruch wahr. Hatte mein Vater ein Feuer gemacht? Jetzt, wo es schon beinahe Sommer war? Ich sah ein dickes Bündel Briefe in der Asche liegen, die am Rand schon recht angekohlt waren. Auf den ersten Blick erkannte ich Großvaters Hanschrift. Ich angelte die Briefe eilig heraus und steckte sie in die Tasche.
Als mein Vater wieder hereinkam, stand ich unschuldig da mit Oma Annetjes Fotoalbum in der Hand. »Kann ich die Bilder mitnehmen? Dir bedeuten sie ja doch nichts …«
Er wirkte erleichtert, als ich endlich ging.
Erst im Zug betrachtete ich meine Beute. Briefe an Oma Annetje, mit Poststempeln aus den Jahren des Ersten Weltkriegs, mit schicken Namen, oft Doppelnamen, auf den Absendern. Ein Umschlag, gestempelt im Jahr 1917, von einer Frau Van Reemst aus Sleen, trug Oma Annetjes Kommentar:
Für dieses Bürschchen war ich gerade rechtzeitig zur Stelle, um es ins Leben zurückzurufen, seine Speiseröhre funktionierte nicht gut.
Eine Frau Manssen Frijlinck schrieb:
Wir erwarten das Kind Ende Mai … Gerne hätte ich das eine und andere mündlich mit Ihnen besprochen, doch durch Ihre plötzliche Abreise kam das nicht zustande …
Auf einen Umschlag von einer Frau E. De Beaufort hatte Oma Annetje notiert:
Das war eine Wochenpflege, die ich annahm, um von Oud wegzukommen.
Briefe von Wöchnerinnen. Von wildfremden Frauen.
Interessanter fand ich die elfenbeinfarbenen Umschläge, die mit den Initialen des alten Oud bedruckt waren. Auch die waren mit Oma Annetjes Kommentaren versehen.
DAS DATUM ERZÄHLT DIE WAHRHEIT.
Es schien tatsächlich so, als hätte Oma Annetje damit gerechnet, dass irgendjemand einmal die Bedeutung ihres Lebens erkennen würde. Dass sie mehr oder weniger erwartet hatte, dass sich jemand für diese Dokumente interessieren würde. An wen, dachte ich belustigt, mochte sie dabei gedacht haben? An ihren Stiefsohn Lepel, meinen Vater? An Onkel Piet Vlek, der so vernarrt in sie gewesen war? Oder dessen Bruder, Onkel Rob Vlek, der immer so geistreich erzählen konnte? Aber der würde es wohl selbst nicht mehr lange machen.
An meinen Vater, das wäre das Naheliegendste gewesen. Doch von seiner früheren Wertschätzung für seine Stiefmutter war anscheinend wenig übrig geblieben. Dokumente, die sie ein Leben lang wie einen Schatz gehütet hatte, wären im Feuer oder im Müll gelandet, wenn ich sie nicht in allerletzter Minute gerettet hätte. Behutsam machte ich das Bündel aus dem Kamin auf.
Das waren viel spätere Briefe, aus den dreißiger, vierziger Jahren, aus Zeist, aus Den Dolder. Aus der Zeit von Großvaters Geistesverwirrung. Unheimlich. Ich würde sie zu Hause in aller Ruhe studieren.
Aber wann? Ich hatte auch was anderes zu tun. Warum hatte ich all die Papiere eigentlich so dringend mitschleppen müssen? Wenn ich das alles lesen wollte, musste ich mir Urlaub nehmen, und das war vorläufig nicht drin.
Ich sah aus dem Fenster.
Duivendrecht.
Noch eine Viertelstunde,dann war ich in Amsterdam. Ich begegnete meinem eigenen Gesicht in der Scheibe, in dem die Züge der Beetsens und Mansborgs sich mischten, mit noch einem ordentlichen Schuss Braakensiekblut dazu – ich scheine meiner ›Oma Overtoom‹ ähnlich zu sehen, der geschmähten Pij, die meinen
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