Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
Großvater Christaan verlassen hatte, in Wirklichkeit aber wohl von Annetje verdrängt worden war, wie heftig auch immer mein Vater das bestritten hat.
Das war jedenfalls eine Frage, über die mir diese Briefe vielleicht Klarheit verschaffen konnten. Ich schloss die Augen und wühlte in meiner Tasche wie in einer Lostrommel. Manchmal befinde ich mich in diesem ›gesegneten Zustand‹. Dann finde ich alles instinktiv. In antiquarischen Buchhandlungen werde ich zum Beispiel genau zu jenem Buch hingezogen, das ich in dem Moment brauche. Finde ich es nicht sofort, dann kann ich es vergessen …
Schließlich zog ich einen hellgrünen Umschlag heraus, der Annetjes Namen trug, in der zittrigen Handschrift von Pij.
Amsterdam, 27. September 1939
Liebe Ann, herzlichen Dank für Deinen herzlichen Brief. Mein Herz ist so voll von allem, dass es mir schwerfällt, das, was in mir vorgeht, in Worte zu fassen. Ich kann Dir nicht sagen, wie dankbar ich Dir bin, dass Du für meinen Jungen sorgen willst, jetzt, da ich es selber nicht mehr tun darf, und dass gerade Du es bist, ist mir schon ein Trost. Von allen Frauen, die ich kenne, fällt mir keine ein, die so gut für ihn wäre wie Du, jetzt, da er so verwirrt ist und seine Gesundheit so schwach. Mit einem Missverständnis möchte ich freilich aufräumen. Glaube mir, ich wäre nicht freiwillig fortgegangen. Ich habe die Entscheidung voll und ganz Christiaan überlassen. Wie sehr ich unter all dem gelitten habe und noch leide, kann ich Dir nicht beschreiben. Ich hoffe nur inständig, dass auch Dir noch etwas Gutes beschieden sein möge. Liebe Ann, wann und unter welchen Umständen werdenwir uns wohl wieder begegnen? Vor allem das Allerbeste, mein Herz ist voller Dankbarkeit für Dich.
Ein Brief, geschrieben drei Wochen nach Ouds Tod. Dann stimmte Onkel Henks Geschichte also doch. Gleich danach haben sich Oma Overtoom – die geschmähte Pij – und mein Großvater Christiaan für immer getrennt. Und im Dezember hatte er Ann geheiratet. Großvater hatte also wohl schon vor der Scheidung etwas mit ihr gehabt – das war anders nicht möglich. Warum druckste mein Vater da so herum? Warum stand er nicht zu seiner Mutter?
Andererseits musste man aus dem Brief schließen, dass Pij von der geplanten Wiederverehelichung ihres Mannes zu diesem Zeitpunkt noch nicht das Geringste geahnt hatte.
Was aber kein Beweis war für eine böse Absicht aufseiten von Oma Annetje.
Als der Zug in den Amsterdamer Hauptbahnhof einfuhr und ich alles eilig einpacken musste, glitt mir in der Hast ein Foto vom Schoß. Es hatte im Rahmen von Oma Annetjes Spiegel gesteckt, vergilbt und gekrümmt von den Jahren.
Es waren zwei Paare, ein altes und ein junges, im Garten von Vosseveld. Großvater und Oma Annetje, mein Vater und meine Mutter, lachend, alle vier. Sie stehen vor der Akazie. Das Haus ist nicht zu sehen. Nur der Schatten auf dem Rasen, der muss vom Haus sein. Der Schatten von Vosseveld, der reicht bis an ihre Füße.
Éminence par excellence
Ein paar Tage später hatte ich endlich mal Zeit, um mich weiter in Oma Annetjes rätselhafte Geschichte zu vertiefen. Ich holte die Schachtel hervor, in der ich ihre Papiere einstweilen verstaut hatte. Ich hoffte, noch mehr über sie und ihre Rivalin Pij zu erfahren – und stieß dabei auf etwas anderes.
Ich hatte Annetjes Pass aufgeschlagen, um mir das Foto anzusehen: ein schmales, trauriges Gesicht mit großen, schwarzen Augen. Der Stempel war von 1936. Das war drei Jahre vor Ouds Tod. Falls da schon Hoffnung auf ihre spätere Heirat mit Großvater bestanden hatte, war jedenfalls auf diesem Bild noch nichts davon zu bemerken.
Hinten im Dokument steckten, wie es schien, noch Bezugsscheine aus dem Krieg. Dazwischen fand ich das Passfoto eines unbekannten jungen Mannes und ein zusammengefaltetes Blatt. Es war ein nur zur Hälfte ausgefülltes Formular, das, nach dem Aufdruck zu schließen, aus dem Wilhelmina-Hospital stammte.
Datum
: 17. Februar 1916.
Name der Mutter
: blanko.
Name des Kindes (m/w)
: Willem
Name des Vaters
: Mit etwas gutem Willen konnte man da die Initialen H. C. herauslesen. Der Familienname war nur ein Strich.
Erstaunt starrte ich auf das Blatt. Eine Geburtsurkunde.Hatte Oma Annetje mitten in ihrer Krankenschwesternausbildung ein Kind auf die Welt gebracht? Wer der Vater gewesen war, war nicht schwer zu erraten: H. C. – wer anders als der alte H. C. Oud? Der war mindestens ein
Weitere Kostenlose Bücher