Frau Paula Trousseau
jedem Menschen steckt etwas vom anderen Geschlecht. Für eine Frau ist es ganz natürlich, eine andere Frau zu lieben.«
»Also, für mich nicht.«
»Ich denke, jede normale Frau, die eigentlich Männer liebt und nur Männer liebt, kann auch von einer anderen Frau erotisch angezogen sein. Deshalb ist sie noch längst keine lesbische Frau, es gehört einfach dazu. Und zwar bei jeder Frau, Paula.«
»Bei jeder Frau?«
»Davon bin ich überzeugt.«
»Das habe ich aber noch nie gehört.«
»Du darfst nicht mit den Küken reden, die haben davon noch keine Ahnung, für die ist der Hahn ihr Ein und Alles. Du musst mit Frauen reden, mit erwachsenen Frauen.«
»Mit erwachsenen Frauen. Mit deiner Mutter beispielsweise? Glaubst du etwa, deine Mutter hat sich auch schon einmal in eine Frau verliebt?«
»Du würdest dich wundern, was meine Mutter mir alles erzählt hat, und dabei soll mein Papa ein ganz wunderbarer Liebhaber sein. Rede mal mit deiner Mutter darüber, du wirst staunen, was sie dir alles erzählen wird.«
»Mit meiner Mutter? Das ist ausgeschlossen. Die würde glauben, ich sei durchgedreht.«
»Ich habe schon mit vielen Frauen darüber geredet, mit wildfremden Frauen. In der Sauna oder am Strand, immer wenn sich dafür eine Gelegenheit ergab. Manchen fiel es schwer, darüber zu sprechen, aber wenn sie erst einmal in Fahrt kamen, da habe ich die Ohren angelegt, das kann ich dir sagen. Und mittlerweile glaube ich, dass jede Frau da ein paar Erfahrungen gemacht hat. Und die sind weiß Gott nicht lesbisch, das sind ganz normale Frauen, die einen Mann verführen können und mit ihm Spaß haben und das ganze Gegenteil von einer Lesbierin sind. Es ist einfach natürlich bei uns Frauen.«
»Bei mir nicht. Dann bin ich eben nicht natürlich.«
»Du hast es nur noch nicht kennengelernt.«
»Hör auf, Kathi. Ich will davon nichts mehr hören. Ich muss schlafen, ich habe morgen Prüfung.«
»Du hast Recht. Schlafen wir. Es ist sicher bald eins.«
Ich lag ängstlich und wie erstarrt auf meiner Seite der Schlafcouch. Ich wagte mich nicht zu rühren, und als ich auf die Toilette gehen musste, tastete ich bei der Rückkehr mit den Fingerspitzen vorsichtig die Bettdecke ab, bevor ich mich wieder hinlegte.
5.
Ich schlief unruhig und wurde früh wach. Mein kleiner Reisewecker stand auf dem Fußboden, jedes Geräusch und jede heftige Bewegung vermeidend, langte ich nachihm, um ihn zu mir zu drehen. Es war zehn Minuten nach sechs. Ich hatte noch mehr als eine Stunde Zeit, bevor ich aufstehen mußte, aber ich war hellwach. Um zehn Uhr musste ich zum letzten Mal vor der Aufnahmekommission erscheinen, und diesmal ganz allein. Alle zwanzig Minuten musste einer aus unserer Gruppe an diesem letzten Tag vor den Professoren erscheinen, um sich sein Urteil anzuhören.
Vier Tage lang hatte man uns geprüft. Wir waren sechsundzwanzig, zehn Jungen und sechzehn Mädchen. Sechs von uns bewarben sich um einen Platz in der Klasse der Bildhauer, die anderen wollten wie ich Maler oder Grafiker werden. Insgesamt hatte es wohl, wie ich hörte, fünfhundert Bewerber um die wenigen Studienplätze gegeben.
Am ersten Tag saßen wir den ganzen Tag mit den Professoren in einem Raum, hörten uns ihre Erklärungen an und mussten ihnen Fragen beantworten. Die Arbeiten, die wir Monate zuvor eingereicht hatten, lagen auf einem der riesigen Tische. Nacheinander wurden die Mappen geöffnet, die Professoren blätterten sie rasch durch, zogen dann ein oder zwei Blätter hervor und sagten ein paar Sätze darüber. Es waren sehr gute Arbeiten darunter, Bilder, bei denen ich neidisch wurde und mir sagte, dass ich keine Chance hätte, die Prüfung zu bestehen, aber auch diese Blätter wurden sehr kritisch besprochen. Ich glaube, ein Lob hat an diesem Tag keiner von uns gehört, die Professoren hatten an jedem Blatt etwas auszusetzen, und der, über dessen Arbeit gesprochen wurde, saß mit hochrotem Kopf da und hörte sich schweigend an, was man über ihn und das Bild zu sagen hatte.
Am Nachmittag gab es Gespräche mit dem Philosophieprofessor und dem Dozenten für Ästhetik, es wurde allgemein über Kunst gesprochen, über Politik undüber die Rolle des Künstlers in den Kämpfen der Zeit, wie mehrmals gesagt wurde. Jeder von uns wurde direkt angesprochen, und ich versuchte, alle politischen Fragen richtig zu beantworten, aber ich glaube, alle merkten, dass ich unsicher und hilflos war. Du schaffst es, sagte ich mir immer wieder, du schaffst es.
Am
Weitere Kostenlose Bücher