Frau Paula Trousseau
macht ihr dieses Jahr in den Ferien? Habt ihr etwas geplant?«
»Wir machen einen Südamerika-Trip. Wir werden ein Semester aussetzen. Wenn wir mit dem Studium fertig sind, kommen wir doch nie wieder dazu.«
»Sehr schön. Ich beneide euch. Fahrt ihr allein?«
»Nein, wir sind zu sechst. Ein paar Kommilitonen von Melanie kommen mit.«
»Dann sehen wir uns nach den Ferien.«
»Und du?«
»Ich weiß noch nicht. Mein alter Freund Bertrand hat mich eingeladen. Erinnerst du dich noch an ihn? Burgund wäre eigentlich sehr schön. Vielleicht fahre ich dort hin und bleibe etwas länger.«
Wir umarmten uns beim Abschied, und Melanie küsste mich sogar.
Nun, einen Monat später, will ich tatsächlich nach Frankreich fahren, aber nicht nach Dijon und auch nicht zu Jorge, der inzwischen in Paris lebt. Ich möchte in ein fremdes, in ein fernes, in ein anderes Land, ich will mich nicht mit Freunden treffen. Einen Stapel Prospekte hatte ich mir aus einem Reisebüro geholt mit den Adressen preiswerter Pensionen. Ich habe kein Zimmer vorbestellt, sondern werde jeden Abend dort Quartier machen, wo es mir gefällt. Meinen Koffer werde ich in Orleans oder in Vendôme unterstellen und mich dann mit dem Rucksack auf den Weg machen. Drei, vier Wochen durch das Val de Loire wandern, etwas zeichnen, zur Ruhe kommen.
Am 29. April fahre ich nach Berlin. Ich übernachte bei Kathi, gebe ihr Autoschlüssel und Papiere und bin noch einen Tag mit ihr zusammen. Am Abend fährt sie mich in meinem Auto an die Bahn.
»Muss ich mir Sorgen machen?«, fragt sie beim Abschied.
»Nein. Wieso?«
»Du gefällst mir nicht, Paula.«
»Was ist jetzt los? Die Stunde der Wahrheit? Du gefällst mir auch nicht, schon seit Jahren. Bist du jetzt zufrieden?«
Mitten in der Bahnhofshalle kreischen wir wie Schulmädchen, wir küssen und umarmen uns, wir wollen keine Abschiedsstimmung aufkommen lassen.
»Ruf an, damit ich weiß, wo du steckst.«
»Mach ich. Versprochen. Und jetzt fahr nach Hause.Ich will nicht, dass du hier auf dem Bahnhof herumhängst. Ich muss noch eine Fahrkarte kaufen, und ich hasse Abschiede. Und pass auf mein Auto auf, Kathi.«
Ich kaufe mir eine Karte für Schlafwagen erster Klasse. Ich entschließe mich dazu, als ich eine Fahrkarte nach Orleans verlange und die Schalterbeamtin mir sagt, es gäbe noch freie Schlafwagenplätze bis Paris, ein Bett in der ersten Klasse und drei Betten in der zweiten. Ich bin noch nie in meinem Leben erster Klasse gereist. Ich erkundige mich, was ein solches Bett kostet, und kaufe mir das Ticket. Sie rät mir, sofort einen Platz für die Rückfahrt zu buchen, aber ich sage, ich wüßte nicht, wie lange ich bleiben werde.
Bis zur Abfahrt habe ich noch eine Stunde Zeit und setze mich in eins der Restaurants in der Bahnhofshalle. Ich bestelle einen Weißwein. Die junge Frau hat um diese Zeit wenig zu tun, als sie mir das Glas bringt, stellt sie sich an meinen Tisch und fragt, ob der Wein schmeckt und wohin ich fahre. Sie beneidet mich, sie könne sich einen solchen Urlaub nicht leisten, aber irgendwann wird sie auch nach Frankreich fahren. Ich bestellte ein zweites Glas Wein und hätte fast den Zug verpasst, wenn mich nicht die Kellnerin auf die Abfahrtszeit aufmerksam gemacht hätte.
Ich habe eine Schlafwagenkabine für mich allein, und ich genieße das luxuriöse Abteil. Der Bahnbeamte klopft an die Tür und fragt nach meinen Wünschen. Ich habe so lange keinen Urlaub mehr gemacht, diese Fahrt will ich von Beginn an genießen und bestelle eine Flasche Wein.
Gegen den Willen ihrer Eltern und ihres Verlobten fährt die 19jährige Paula zur Aufnahmeprüfung der Kunsthochschule nach Berlin. Sie wird Malerin, um den Preis der Verhärtung gegen alle und alles. Sämtliche Beziehungen zu Männern scheitern, die zu Frauen gehören zu den beständigeren, vertreiben jedoch nicht die dominierenden Grautöne aus ihren Bildern. Woher kommt diese Gleichgültigkeit gegenüber den anderen und am Ende gegen sich selbst? Wie werden wir, was wir sind? Christoph Hein erzählt von einer Frau, die in ihrem Leben das Abenteuer der Selbstbehauptung eingeht.
»Diese Paula Trousseau macht einen Fehler nach dem anderen, und doch wird der Leser sie nach den gut 500 Seiten fest in sein Herz geschlossen haben, weil diese Romanfigur lebt, weil sie ganz und gar menschlich ist. … Frau Paula Trousseau knüpft auf furiose Art an Heins Novelle Drachenblut an.« Neue Zürcher Zeitung
Christoph Hein, geboren 1944 in
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