Frau Paula Trousseau
fast in der Bildmitte des Blattes befinden, jedenfalls vermutete sie es, da sich sein Blick immer wieder auch auf ihren Platz richtete.
Sie setzte sich aufrecht hin und versuchte, gelassen und elegant zu wirken und sich nicht zu rühren. Er sollte auch sie malen. Sie wollte auf seinem Bild zu sehen sein. Im Zeichenunterricht hatten sie einmal Porträts von Mitschülern malen müssen, und so wusste sie, dass derPorträtierte lange Zeit stillsitzen musste. So blieb sie reglos in der Haltung, die ihr vorteilhaft schien, ihr Gesicht hielt sie, als betrachte sie die Wipfel der Bäume. Wenn sie ihre Augen ein wenig nach unten verdrehte, konnte sie den Maler sehen, der in seiner dicken Wattejacke auf der Bank saß und unablässig zeichnete. Sie kannte ihn nicht. Vielleicht war es ein richtiger Maler, ein berühmter Mann, der in ihre Stadt gekommen war. Wenn sie nur schön und interessant genug aussah, sagte sie sich, würde er sie jetzt auf seinem Blatt festhalten. Die Schulter schmerzte ihr und eins der Beine schien eingeschlafen zu sein, aber sie bewegte sich nicht. Nur ihre Augen wanderten zwischen den Baumwipfeln und dem Maler, der noch immer wild und hastig an dem Blatt arbeitete, hin und her. Sie hoffte, er würde nicht bemerken, dass sie immer wieder zu ihm sah, und dass ihn die Bewegung ihrer Augen beim Malen nicht stören würde.
Ihr war kalt. Sie bedauerte, ohne Mantel aus dem Haus gerannt zu sein. Doch zugleich sagte sie sich, dass sie in dem alten Mantel unansehnlich sei und ihr das Kalikokleid mit dem broschierten Saum viel besser stehe. So blieb sie sitzen. Sie presste die Lippen aufeinander, um nicht vor Kälte zu zittern, und das Stechen in dem eingeschlafenen Bein bekämpfte sie vorsichtig, indem sie die Fußspitze gegen den Erdboden drückte.
Irgendwann hielt sie es vor Kälte und Neugier nicht mehr aus. Zudem fürchtete sie, dass der Maler seine Arbeit beenden, aufstehen und weggehen oder ein neues Blatt beginnen würde und sie die Zeichnung nie zu sehen bekäme. Sie stand auf, trat mehrmals auf der Stelle, um das eingeschlafene Bein zu spüren und um sich zu erwärmen. Dann ging sie zu dem Maler, nicht direkt, sondern umkreiste die Lichtung. Er sollte glauben, sie käme zufällig an seiner Bank vorbei.
Als sie dort angekommen war, ging sie hinter der Bank entlang und versuchte, einen Blick auf das Papier zu werfen, aber durch seine dicke Wattejacke und da er den Zeichenblock auf den Knien hielt, konnte sie nichts sehen. Der Mann, er trug einen scharf geschnittenen Kinnbart, drehte sich jedoch zu ihr und lächelte sie freundlich an. Er steckte sich eine Zigarre an und fragte, ob sie sehen wolle, was er gemalt habe. Sie nickte heftig, und er lud sie ein, neben ihm Platz zu nehmen. Über das Blatt hatte er, als er sich die Zigarre anzündete, das Deckblatt des Zeichenblocks gelegt. Als Paula neben ihm saß, sah er sie aufmerksam an und, ohne die Augen von dem Mädchen zu wenden, klappte er das Deckblatt zurück und wartete auf ihre Reaktion.
Es war eine sehr schöne Skizze. Die Bäume waren mit einer leichten Schraffur skizziert, die Häuser der Waldsängerallee gut zu erkennen, Paula entdeckte sogar die abgerissene Regenrinne über Clemens’ Fenster, aus der ständig Wasser an der Hauswand herablief und eine graue Spur auf dem Mörtel hinterließ. Die Köhlerwiese war in der Bildmitte, und die Bleiche war an einer leichten Senke zu erahnen. Die Bank, auf der Paula gesessen hatte, war am unteren Bildrand zu erkennen, aber sie war leer. Er hatte die leere Bank gemalt. Sie hatte sich ganz umsonst abgequält und abgefroren.
»Gefällt es dir nicht?«, erkundigte sich der Maler, der ihre Enttäuschung bemerkte.
»Es ist schön«, sagte sie, »aber warum malen Sie keine Menschen?«
»Weil die Menschen lügen«, sagte der Maler, »alle Menschen lügen. Sie versuchen alle, etwas anderes darzustellen, als sie in Wirklichkeit sind.«
Paula wurde rot, sie fühlte sich ertappt.
»Wenn ich einen Baum male«, fuhr der Maler fort,»seine Blätter, seine Rinde, die Wurzeln, dann habe ich, wenn es mir gelingt, den Baum so auf dem Papier, wie er ist. Wenn ich aber einen Menschen male, dann kann ich mich anstrengen, wie ich will, ich bekomme auf das Papier nur das, was er mir zu sehen gibt. Seine Seele kann ich nicht malen. Verstehst du?«
Sie nickte und sagte stolz: »Ich weiß, ich male nämlich auch.«
»Donnerwetter«, sagte der Mann, »du bist also eine Kollegin.«
»Ja, aber ich finde Bilder von Menschen
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