Frau Schick macht blau
Gefühle und Nellys Festhalten an naiven Märchenträumen von der Liebe das oberste physikalische Wirkprinzip erotischer Leidenschaft in Gang setzen mussten: das Gesetz von Abstoßung oder Anziehung. Gleichgültigkeit füreinander war zwischen ihm und Nelly ausgeschlossen.
Nun, die Physik der Liebe hat es gut mit ihnen gemeint: Die Anziehungskräfte waren stärker als die der Abstoßung. Die sture Nelly, die mit sämtlichen Herzkammern atmen und bei Bedarf einen Mistkerl wie Javier mit einem Pilgerstab verprügeln kann, die Nelly, die hinfallen und wieder aufstehen kann, um sich dem Glück erneut bedenkenlos in den Weg zu werfen, die manchmal zuckersüße und dann gänzlich zuckerfreie, kurzum die unberechenbare Nelly hat sein Herz zum Flimmern gebracht.
Bilder eines einsamen Gewalt- und Schweigemarschs mit ihr steigen in ihm hoch. Das war, nachdem Nelly dem unverhofft wieder aufgetauchten Windhund Javier ein bemerkenswertes Veilchen verpasst hatte. Herberger kamen im Gehen Gefühle und Gedanken in die Quere, von denen er nicht mehr gewusst hatte, dass sie noch existierten.
Ein Lächeln entspannt seine Züge. Seine Liebe zu Nelly im Schweigen und Gehen zu entdecken war das größte Geschenk. »Wenn die Liebe unermesslich ist, wird sie sprachlos«, so hat Nelly es – mit ihrem Hang zu großer Sehnsuchtslyrik und Khalil Gibran – später umschrieben.
Vornehmlich schweigsam war auch ihre Mittagsrast am Rand des Camino. Unvergesslich der Zustand glückseliger Benommenheit, der ihn überkam, als er unter einem silbern flirrenden Olivenbaum neben – und keinesfalls mit – Nelly geschlafen hat. Die körperliche Seite ihrer Liebe kam erst Nächte später ins Spiel, angemessen gründlich und glutvoll, aber verliebt hat er sich in die schlafende Nelly unter dem Olivenbaum. Entspannt und in Einverständnis mit allem nebeneinander einzuschlafen ist nun einmal intimer, als das Kamasutra der Körper durchzudeklinieren. Im Schlaf posiert man nicht, im Schlaf liefert man sich aus.
Na ja. Herberger schüttelt ein wenig den Kopf. Dass er eher nüchtern über die erotische Seite ihrer Liebe nachdenkt, liegt daran, dass Einschlafen neben Nelly seiner Vorstellung vom Paradies momentan näher kommt als Sex mit ihr oder die verfluchte Südsee. Vierzig Stunden Flugzeit in zehn Tagen zwischen diversen Zeitzonen und über Datumsgrenzen hinweg, davor die Camino-Reise, sind kein Pappenstiel. Er will endlich nach Hause. Nicht in seine leere Kölner Wohnung. Dieser begehbare Habitat-Katalog ist teuer, aber – das muss er zugeben – lustlos eingerichtet und darum seelenlos. Sein wirkliches Zuhause hat keine vier Wände, sondern grünbraune Augen mit Goldsprenkeln und bemerkenswerte Fältchen über der Nasenwurzel, die weniger zu Skepsis als zu Aufruhr neigen.
Nein danke, er will auch keinen ausgedehnten »Zwischestopp in de Stadt der Liebe oilege«, den Karl-Dieter gerade mit einer sehr einverstandenen Hedwig plant und auch ihm empfiehlt.
Das einzig Spannende an dieser Reise ist die verbleibende Flugzeit, bis er Nelly wiedersieht, zum ersten Mal seit ihrem Abschied am und vom Camino. Die Trennung kam plötzlich. Er musste Frau Schick nach Hause chauffieren und danach in die Südsee, und Nelly musste zurück zu ihrer Tochter Becky. Auf die ist er ebenfalls sehr gespannt. Eine reichlich kesse Göre scheint das zu sein – hat mit knapp sechzehn bereits eine pubertäre Meisterleistung vollbracht. Während Nelly auf dem Jakobsweg war, ist Becky ihrem Herrn Vater ausgebüchst und war tagelang unerreichbar.
So wie jetzt Nelly.
Herbergers Blick streift die Flugroutenanzeige auf einem ausgeklappten LED-Bildschirm. Bedauerlicherweise trennen ihn noch vier Stunden von Paris Orly und – samt Wartezeit, Anschlussflug und Taxistrecke – mindestens drei weitere Stunden von Düsseldorf und dem Beginn seines gemeinsamen Lebens mit Nelly.
Vor 19 Uhr wird er kaum bei ihr sein, um mündlich zu wiederholen, was er ihr noch von Santiago de Compostela aus via Fleurop mit einem Olivenbäumchen und einem beigefügten Briefchen gesagt hat: »Casaté conmigo – Heirate mich.« Nach allem, was sie erlebt haben, ist »Sì« oder »Ja« doch wohl die einzig mögliche Antwort?
Ja, Ja, JA, verflixt! Reisen ist leicht, aber Ankommen anscheinend Schwerstarbeit.
Nun, zumindest Frau Schick wird ein Nein von Nelly nicht gelten lassen, versucht er sich zu beruhigen und muss schmunzeln. Frau Schick hat ihn auf ihrer gemeinsamen Rückfahrt nach Deutschland bereits
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