Frau Schick räumt auf
keine Chance gegen die Wolken- und Wetterlage. In Galizien, das sie nach dem Pass erreichen werden, wird es sicher wieder einmal regnen. Das kennt er.
Es ist kurz nach Mitternacht. Bis zum Flughafen von Santiago sind es noch etwa zwei Stunden Fahrtzeit, und geschlossen wird er auch sein. Sie hätten also ebenso gut am nächsten Morgen in Molinaseca losfahren können, aber Nelly hat auf einem sofortigen Aufbruch bestanden. Jeder Meter, der sie näher an Becky heranbringt, zählt, hat sie argumentiert.
Dabei hatte Viabadel gute, ja ganz ausgezeichnete Nachrichten für sie: Becky ist zurück und im Grunde nie abgehauen. Sie hat sich nach der Ohrfeige für den Papa einfach von der Berliner Filmgala zurück nach Düsseldorf durchgeschlagen. Durchgeschlagen . Herberger schüttelt den Kopf. Das ist leicht übertrieben. Ein ICE-Ticket kann man sich mit fünfzehn auch im Abendkleid und mit verlaufenem Make-up kaufen. Erst recht, wenn man aus dem gleichen Holz wie Nelly Brinkbäumer geschnitzt ist. Das scheint der Fall zu sein.
Das Kind, denn das ist sie trotz allem noch, muss merkwürdig ausgesehen haben, aber nicht merkwürdig genug, um jemandem aufzufallen. Nach der Bahnfahrt hat Becky sich einfach in der Wohnung ihrer Mutter verkrochen. Wie Teenager es gut können, hat sie die Welt für ein paar Tage weggeschaltet. Telefon, Türklingel und Handy ebenfalls. Sie war offenbar wütend, verletzt und traurig darüber, dass Nelly nicht da und erreichbar war, um sie zu trösten, nachdem der Herr Papa die freundliche Maske des Traumvaters kurz hat fallen lassen.
Falsch, denkt Herberger, eine Maske scheint das nicht zu sein. Dieser Jörg Barfelder ist ganz einfach so, selbstverliebt und auf seinen Vorteil bedacht, den er selbstverständlich auch für Beckys einmalige Chance gehalten hat. Wahrscheinlich hat er sich die selbstgewählte Rolle als benachteiligter Scheidungsvater selbst abgenommen.
Auf der Gala, das hat Herberger mittlerweile durch ein Telefonat mit Nellys Freundin Ricarda erfahren, hat ihn ein Reporter um ein Interview zum Thema Scheidungskinder gebeten, und Jörg Barfelder hat sein und Beckys frei erfundenes schweres Schicksal kurz angerissen. Weit ist er nicht gekommen, denn mittendrin hat Becky ihm eine geknallt. Dann ist sie verschwunden, bis Ricarda sie beim Blumengießen in Nellys Wohnung entdeckt hat.
Herberger nimmt eine weitere Kehre. Ziemlich schlagkräftige Familie, diese Brinkbäumers. Außerdem neigen Mutter und Tochter zu impulsiven Fluchten. Er muss grinsen.
Nelly ist ganz offensichtlich nicht nach Lachen zumute. Sie telefoniert seit einer halben Stunde mit ihrer Freundin Ricarda. Sie nutzt dafür das Handy, das Herberger ihr heute Nachmittag nach seinem alles entscheidenden Anruf bei Herrn Viabadel besorgt hat. Zum hundertsten Mal erkundigt sich Nelly bei ihrer Freundin über Beckys Zustand. Dabei hat sich an dem seit ihrem ersten Anruf in Düsseldorf nichts geändert. Becky schläft tief und fest. Bei Ricarda.
Fehlt nur noch die Frage, ob Becky auch warm zugedeckt ist, seufzt Herberger innerlich. Nein, die Frage verkneift sie sich. Stattdessen folgt ein kurzer Streit darüber, dass Nelly ihre Reise abbricht. Ricarda ist offensichtlich dagegen.
Herberger ebenfalls. Nelly sollte den Camino lieber zu Ende gehen, weil ihr das guttut und sie immerhin ein Honorar dafür bekommt. Wenn Nelly nur nicht so stur wäre!
Nach einer gefühlvollen Versöhnung zwischen Nelly und Ricarda, die Herberger geflissentlich überhört, um nicht aus der Kurve zu geraten, wendet sich Nelly jetzt den technischen Details der Überraschungsnachricht zu. »Wie zum Kuckuck hast du überhaupt die Nummer von Viabadels Finca herausgefunden, Ricarda?«
Falsche Frage, denkt Herberger. Nicht Ricarda hat Viabadels Nummer herausgefunden, sondern er die ihre. Zugegeben: Es hat eine Weile gedauert, bis er auf die Idee gekommen ist, die Telefonanlage von Viabadels Finca zu befragen. Die speichert nämlich die Nummern aller ein- und ausgehenden Anrufe. Er hatte das Flugticket nach Düsseldorf bereits besorgt, als ihm eingefallen ist, dass er an dem Morgen in Viabadels Finca noch Nellys vergessene Telefonrechnung beglichen hat. Sein Anruf beim Basken war ein Anruf ins Blaue, aber ein Treffer.
Herberger hat Ricardas Nummer bekommen, und danach ist alles recht schnell gegangen. Herberger hat Ricarda angerufen, die bereits verzweifelt nach einer Möglichkeit suchte, Nelly zu erreichen. Verzweifelt, aber ziemlich vernünftig, diese Frau,
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