Frau Schick räumt auf
Was hat die alte Dame nur wieder vor?
An einem schmalen Schaufenster, in dem sich zwischen sauber aufgereihten Wasserflaschen und exakt gestapelten Thunfischdosen ein Gewimmel von Jakobsweg-Souvenirs breitmacht, bleibt Frau Schick stehen. Santiago-Fingerhüte und Santiago-Spitzenfächer tummeln sich zwischen Molinaseca-Miniaturen in rosa Jakobsmuscheln und Kathedralen in Schneekugeln. Nelly schwant Schreckliches.
»Keine Bange, die Frau des Ladenbesitzers hat im Unterschied zu einigen Touristen wirklich Geschmack«, versucht Frau Schick, sie zu beruhigen. »Ach, schau einer an! Hildegard ist bereits reingegangen.« Sie tippt mit dem Wanderstock leicht ans Fenster. »Da bei der Ladentheke steht sie. Sie möchte nämlich auch Tanzschuhe kaufen.«
»Hildegard?« Nelly kommt aus dem Staunen nicht heraus. So lange war sie von der Reisegruppe doch gar nicht getrennt.
»Ich habe ihr vorhin zwei Tequila spendiert«, sagt Frau Schick, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. »Die Ärmste hatte sich so schrecklich aufgeregt, weil sie mit Ernst-Theodor in die Hochzeitssuite muss.«
»In die Hochzeitssuite?«
»Ja, ein anderes Zimmer war für die beiden nicht mehr frei. Das Himmelbett ist zwar wunderschön, aber sehr schmal, und die schwarze Bettwäsche ein bisschen …«
»Frau Schick! Da stecken doch nicht etwa Sie dahinter?«
»Für wie plump halten Sie mich? Schwarze Bettwäsche, Moschuskerzen in Herzform und Amor als Seifenschale, also wirklich! Nein, das mit der Suite war reiner Zufall. Die Zimmerschlüssel lagen bei der Ankunft der Reisegruppe in einem Körbchen bereit, und jeder hatte freie Auswahl. Hildegard hat sofort einen an sich gerissen und ist raufgestürmt. Eine Minute später war sie wieder unten. Zornesbleich war sie, das kann ich Ihnen sagen. Keiner wollte tauschen. Nicht einmal Martha und Hermann. Ernst-Theodor auch nicht.«
Nelly seufzt. »Und nach Ihren zwei Tequila will Hildegard jetzt mit ihm tanzen?«
»Nein, mit Herberger. Für Ernst-Theodor braucht sie noch einen Tequila mehr, und was Ernst-Theodor braucht, weiß ich noch nicht.«
»Das geht Sie auch überhaupt nichts an«, sagt Nelly scharf.
»Wenn ich jemandem ein alkoholisches Erfrischungsgetränk spendieren will, muss ich doch wissen, was er gerne trinkt«, verteidigt sich Frau Schick und lächelt verschmitzt. »Keine Bange, Kindchen, es gibt auch Fälle, in denen ich dem Schicksal freien Lauf lasse. Ich kann mich schließlich nicht um alles kümmern, und bei Hildegard braucht es schärfere Geschütze als Amors Pfeil. Ernst-Theodor sollte es vielleicht mal mit Nietzsche und der Sache mit der Peitsche versuchen.«
»Frau Schick! Es reicht. Mit so was macht man keine Scherze«, protestiert Nelly.
»Das sagen ausgerechnet Sie? Wer hat denn erst gestern einen Mann k.o. geschlagen? Noch dazu mit einem Pilgerstock! Ich muss schon sagen … Herzlichen Glückwunsch!«
56.
Das ist kein Fest, sondern eine Trauerfeier, stellt Frau Schick Stunden später verärgert fest. Niemand aus der Gruppe tanzt, und am Tisch herrscht trotz fantastischer Musik und gutem Rotwein trübe Stimmung. Am Ende steckt diese kollektive Trübsal sie noch an.
Gründe genug gäbe es. Schließlich hat Frau Schick seit San Anton – und das liegt beinahe zweihundertfünfzig Kilometer hinter ihnen – keine Nachricht mehr von Johannes erhalten. Dafür muss sie Nelly gleich etwas mitteilen, was zu deren Abreise führen wird. Und zu allem Elend sitzt Nelly da, als habe sie die Nachricht bereits erhalten. Ziemlich geknickt.
Na ja, tröstet sich Frau Schick, vielleicht liegt das an ihrem doch recht beachtlichen Laufpensum von gestern und heute. Oder – was besser wäre – an der Tatsache, dass Herberger noch nicht wieder da ist. Könnte ja sein. Könnte durchaus sein, dass er ihr fehlt. Die beiden waren heute doch stundenlang miteinander unterwegs. Gegen dreiundzwanzig Uhr will Herberger in Molinaseca sein, hat er vorhin am Telefon gesagt, vorher habe er noch zu tun. Mehr hat er nicht verraten. Na, Hauptsache, er kommt. Frau Schicks Laune hebt sich wieder. Sie nickt huldvoll in Richtung der Musikband, die gerade ein sehr flottes Stück anstimmt, das sogar ihr in die Beine fährt. Sie dirigiert es mit ihren Wanderstöcken.
Der Busfahrer singt aus Leibeskräften, und Paolo spielt Flöte; er hat sogar eine Art Dudelsackpfeifer aufgetrieben, dazu einen Mann mit einer komischen Drehorgel, eine Akkordeonspielerin und zwei junge Frauen, die mit rauen Jakobsmuscheln und
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