Frau Schick räumt auf
knurrt der Chauffeur. Wen er meint, bleibt offen.
22.
Nelly hätte nie gedacht, dass man sich nach einer Hinrichtung mit Brandy so sterbenselend und schlimmer als tot fühlen könnte. Sie drückt die linke Wange gegen die kühle Scheibe des kleinen Reisebusses. Dessen Räder rumpeln und hoppeln über Pamplonas Buckelpflaster.
Der falsche Jesus, der in Wirklichkeit Paolo heißt und die Wandertruppe anführt, erläutert die Festungsanlagen rund um die Altstadt und erzählt von dem baskischen Ritter Ignatius von Loyola, den eine französische Kanone genau hier zum Krüppel geschossen hat, was dem Basken ein Erweckungserlebnis und der Welt den Jesuitenorden und seine Soldaten Christi bescherte.
Den Kerl hat sie gestern für Jesus, einen Erlöser und ihr Erweckungserlebnis gehalten? Heute haben seine Worte einiges an Anziehungskraft verloren. Nelly hört ihm daher nicht weiter zu, sondern betet nach jedem Schlagloch, dass kein weiteres folgen möge. Endlich verstummt das lautstarke Rumpeln, der Bus beschleunigt und biegt auf eine Schnellstraße ab, die schnurgerade in ein Gewerbegebiet und dann über Berg und Tal ins offene Land führt. Grünbraune Felder fliegen im Wechsel mit gelb herabgebrannten Weiden und blauen Höhenzügen mit wirbelnden Windkrafträdern vorbei. Unter der Last ihrer schweren Rucksäcke schreiten Pilger munter in der Landschaft einher. Manche allein, andere in kleinen Gruppen.
Nelly schließt die Augen hinter der Sonnenbrille, so fest sie kann. Eine sich in Wellen auf- und abbewegende Landschaft bekommt ihrem revoltierenden Magen nicht. Der merkwürdig parfümierte Rappelbus ist Herausforderung genug. Ein Lufterfrischer in Engelsform, der flankiert von einem Rosenkranz vom Rückspiegel herabbaumelt und mit künstlichem Rosenduft gegen die Dieselausdünstungen vorausfahrender Laster ankämpft, macht es ihr nicht leicht, den Inhalt ihres Magens an Ort und Stelle zu behalten. Ihr Magen ist zwar so gut wie leer, jagt aber Säurefontänen in Richtung ihrer Kehle. Ihr Mund schmeckt scharf nach Zahnpasta und einem letzten Hauch Brandy.
Nelly tastet blind nach einer riesigen Plastikflasche, die Frau Schick zusammen mit Herbergers Bibel neben sie auf den freien Sitz gelegt hat, und nimmt einen tiefen Zug. Wasser! Sie wird ihr Leben lang nie mehr etwas anderes trinken. Nie mehr.
Was hat sie sich bei diesem Blödsinn nur gedacht? Nichts. Vier Brandys sind schuld daran, dass sie jetzt mit bleischwerem Kopf und bleischweren Wanderschuhen in einer schwankenden Rappelkiste sitzt, die sich parallel zum Jakobsweg bewegt. Dort wollte sie zwar irgendwann einmal brennend gern hin, aber doch nicht so! Ihr Blick streift die spanische Bibel. Auch das noch!
Paolo setzt zu einem Vortrag über die vor ihnen liegende Tagesstrecke durch Navarra an. Wenn er »Navarra« sagt, klingt das ein bisschen wie Novacha, wie eine Liebeserklärung. Das versöhnt Nelly beinahe damit, dass sie heute in dem mittelalterlichen Königreich herumspazieren soll. Lauter unbekannte Ortsnamen prasseln auf sie ein.
In der Spalte zwischen den zwei Sitzen, auf denen Nelly lagert, taucht Frau Schicks Gesicht auf. Nelly sieht es zwar nicht, aber sie erkennt die Stimme der alten Dame sofort, auch wenn die nur flüstert.
»Was heißt puerto?«
»Hafen.«
»Das kann nicht stimmen, ringsum sind lauter Berge«, zweifelt Frau Schick.
»Es heißt auch ›Höhe‹ oder ›Pass‹.«
»Und wie übersetzt man de perdón?«
»›Mit Vergebung.‹« Oje, selbst dieses bisschen Übersetzungsarbeit – für die Frau Schick sie angeblich engagiert hat – ist heute Morgen für Nelly viel verlangt. Trotz des Honorars von fünftausend Euro. Netto und an der Steuer vorbei, da bar auf die Hand. Solch eine Summe nimmt Nelly sonst in zwei Monaten ein, brutto und nur in wirklich guten Monaten, die es seit einem Jahr kaum noch gibt. Die alte Dame muss verrückt sein. Fast so verrückt wie sie selbst.
»›Pass der Vergebung‹, sehr schöner Name, und das gleich zu Anfang«, flüstert ihre neue Arbeitgeberin verzückt. »Das ist nämlich unsere erste Station, Kindchen. In nur drei Kilometern dürfen Sie an die frische Luft und wandern. Fühlen Sie sich dem gewachsen?«
Nelly versucht zu nicken. Aua! Sie presst sich in die Rückenlehne. »Hoffentlich«, krächzt sie und angelt erneut nach dem Wasser. Nicken, Denken und erst recht Reden sind viel zu viel. Gehen könnte klappen, einfach gehen und Stille und atmen, am besten die Stille und sonst nichts. Außer Luft
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