Frauen lügen
verkniffene Mund.
»Ist Ihnen nicht gut? Mein Gott, ich stehe hier und rede. Sie sind ja ganz blass! Warten Sie …«
Die Frau im Blümchennachthemd nestelt an der Türkette.
»Bitte bemühen Sie sich nicht, Frau Mönchinger, es geht schon besser. Ein kleiner Schwächeanfall, offenbar. Wissen Sie, ich kenne niemanden in Westerland, und in meiner Not kam mir Ihre Adresse, also die Ihres Mannes in den Sinn. Es war natürlich ganz unverzeihlich von mir, Sie einfach so mitten in der Nacht aus dem Bett zu klingeln. Bitte entschuldigen Sie vielmals, aber ich dachte …«
Jetzt hat sie die Kette aus dem Schloss gelöst und winkt mich mit besorgter Miene ins Haus.
»Wirklich, Frau Mönchinger, es geht mir erheblich besser! Ich bitte Sie inständig: Nur keine Umstände! Es ist mir furchtbar unangenehm, Sie überhaupt gestört zu haben.«
Irgendwie schaffe ich es, wieder ins Auto zu kommen.
Mein Kopf ist leer. In einem wahrhaft erschreckenden Ausmaß leer. Ich wende und fahre ziellos durch die Straßen. Nur hin und wieder sehe ich auf die Uhr. Ordne meine Gedanken.
Bin ich nicht losgezogen, die Angaben Hubert Mönchingers zu überprüfen? Und habe ich sie nicht überprüft?
Nach und nach liegt es immer klarer vor mir, das Seelengemälde meines Patienten. Hubert Mönchinger ist ein schwer neurotischer Mensch, fast schon ein Psychopath. Was er sich einredet, grenzt an Schizophrenie. Mein Patient ist ein klassisch klinischer Fall, nur verdammt gut getarnt. Oder lügt er absichtlich, um sich wichtig zu machen? Nein. Dass er selbst die Geschichte mit der Rothaarigen glaubt, daran ist nicht zu zweifeln. Fragt sich nur, was er seiner Frau über die Donnerstagnächte erzählt, die er in Flensburg verbringt. Vielleicht bei der Rothaarigen? Im Liebestaumel? Irgendwo muss er das Foto schließlich herhaben. Wenn ich nur an die Pose denke, mit der dieses scharfe Weib an dem Wagen lehnt. Auf dem Foto ist eindeutig Mönchingers Auto zu sehen, ich war clever genug, mir das Kennzeichen zu merken. Und so ohne weiteres lehnt sich doch keine feuerrote Schönheit an den Kotflügel eines durchschnittlichen Daimler und lässt für den Fotografen auch noch alle Hüllen fallen. Ich werde den guten Mönchinger bei unseren nächsten Sitzungen gehörig in die Zange nehmen müssen. Wäre doch gelacht, wenn ich nicht herausfinden könnte, wer dieses Götterweib ist und wo sie wohnt.
Und dann: Ade Marleen! Und: Gnade dir Gott, du rote Teufelin!
Freitag, 17 . Juni, 4.23 Uhr,
Kurpromenade Westerland
Während auf der östlichen Seite der Insel gerade die Sonne hinter dem Watt aufgeht und schon als fetter roter Ball schwerfällig über Windrädern, Deichen und Feldern hängt, liegt der Westerländer Strand noch im Schatten der erhöht gebauten Kurpromenade. Schlapp rollen die Ebbewellen übers Wasser, feuchtgrau schimmert der Sand im Zwielicht. Die Strandkörbe stehen in Reih und Glied, genauso wie der Wärter sie am vergangenen Abend angeordnet hat. Ihre Rückseiten sind sorgfältig zur Nordsee gedreht. Auch die breiten Spuren eines Raupenfahrzeugs, das am Abend zuvor zwischen Wasserkante und der ersten Strandkorbreihe entlanggetuckert ist, sind noch unangetastet, kein Kind ist darübergehüpft oder hat seine kleinen Füße in die rechteckigen Ausbuchtungen gedrückt.
Doch halt. An einer Stelle sind Schuhspuren zu sehen, tief haben sich die Abdrücke eines Paares großer flacher Schuhe in den Sand geprägt und deutlich sind Hin- und Rückweg voneinander zu unterscheiden. Bald wird der Schattenwurf der steigenden Sonne Fuß- und Fahrzeugspuren überscharf akzentuieren und kurz darauf auch die eigentümliche Figur erfassen, die schräg in einem der Strandkörbe nah an der Wasserkante sitzt.
Es ist eine Frau, jung, nackt, sehr schlank, ohne mager zu wirken. Ihre wenig gebräunte Haut leuchtet wie eine opalene Verheißung in der Morgendämmerung. Sanft modellieren sich Schultern, Brüste und Hüften vor dem blau-weiß gestreiften Plastikbezug des Strandkorbs. Vollkommen entspannt, so scheint es, lehnt die Frau in der rechten Ecke des Sitzes, eine Hand locker über die Lehne gelegt. Ihre Füße stecken in hohen, sehr spitzen Schuhen von grellroter Farbe, die wie Fremdkörper in dem hellen Sand anmuten würden, wären da nicht die ungewöhnlich langen Haare der Frau, deren ebenfalls leuchtendes Rot in dieser Sekunde von den ersten Strahlen der aufsteigenden Sonne ergriffen und zum Glühen gebracht wird. Wie ein Heiligenschein umgeben die Haare das
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