Freche Mädchen... 09: Liebe, Chaos, Klassenfahrt
den letzten Bissen in den Mund, da öffnete sich die Tür.
»Schätzchen! Wie schön, dass du schon da bist!« Meine Mutter strahlte mich an. »Na, wie steht mir das Sweatshirt? Ich finde die Farbzusammenstellung ganz außergewöhnlich.« Sie drehte sich dreimal um ihre eigene Achse und ließ sich dann auf mein Bett fallen.
Ich nickte nur. Wahrscheinlich hatte sie schon längst vergessen, dass sie mir vor drei Wochen dieses Sweatshirt geschenkt hatte. Daran war ich mittlerweile gewöhnt. Jenny kaufte Klamotten in der Jugendabteilung eines Kaufhauses, legte sie mir ins Zimmer und holte sie nach spätestens vier Wochen aus meinem Kleiderschrank, um sie selbst zu tragen. Aber seit einiger Zeit mache ich es genauso. Was mir in ihrem Schrank gefällt, das ziehe ich an. Natürlich ohne zu fragen. Ich finde, das ist nur gerecht. »Deine Mutter glaubt immer noch, dass sie zwanzig ist«, hatte Papa mir erklärt, als ich mich mal darüber beklagt hatte. »Sie wird nie erwachsen. Wahrscheinlich sind alle Künstler so.«
Fast hatte ein bisschen Bewunderung mitgeklungen, als er das sagte. Papa ist Bauingenieur und glaubt von sich, dass er eigentlich ein verhinderter Künstler sei. Worin seine Kunst besteht, habe ich allerdings noch nicht herausbekommen. Vielleicht in seiner Schwäche fürs Theater.
»Jetzt sag schon, wie steht mir das Sweatshirt?«, wiederholte Jenny. »Gefällt es dir? Willst du auch so eins? Was meinst du, soll ich mir vielleicht eine neue Haarfarbe zulegen? Vielleicht kupferrot? Oder …«
Das Telefon klingelte. Jenny sprang auf und öffnete die Tür. »Hör mal, hab ich heute neu aufgenommen«, flüsterte sie, obwohl zum Flüstern überhaupt kein Grund bestand. Der Anrufbeantworter war auf volle Lautstärke gestellt und der Sopran meiner Mutter füllte die ganze Wohnung. »Das ist die Arie der Rosetta aus …« Aber ich sollte niemals erfahren, aus welcher Oper dieses Lied stammte.
»Hallo, Jenny, ich muss leider die Stunde heute Mittag absagen«, krächzte eine heisere Stimme. »Können Sie mir die Noten noch ein paar Tage länger leihen? Ich melde mich. Ciao!«
»Anatol sagt schon zum dritten Mal in diesem Monat ab«, ärgerte sich Jenny. »Mit Gesangsunterricht kann man wirklich nicht reich werden. Wenn wenigstens dein Vater bereit wäre, ein bisschen mehr zu bezahlen, dann müsste ich nicht meine kostbaren Nachmittage mit unbegabten Stümpern verbringen. Übrigens«, sie zögerte kurz, »er hat angerufen. Dein Vater hat solche Sehnsucht nach dir und fragt, ob du nicht das nächste halbe Jahr wieder bei ihm wohnen willst.« Schwungvoll ließ sie sich wieder auf meinem Bett nieder, diesmal im Schneidersitz, und sah mich an.
Ich sagte gar nichts. Sie senkte den Kopf und ich konnte die graue Strähne an ihrem Haaransatz sehen.
Papa meinte zwar immer, ich solle Jenny schonen, sie sei so ein sensibler Mensch, aber ich konnte einfach nicht anders. »Bist du sicher, dass Papa angerufen hat und …?«, fragte ich.
Sie sah mich strahlend an. »Nein, jetzt wo du das so sagst, fällt mir ein, dass ich ihn angerufen habe. Ich habe ihm aus einem Forschungsbericht vorgelesen, dass Kinder den Alterungsprozess der Eltern aufhalten.«
»Den Bericht kannst du mir mal für unseren Mathelehrer mitgeben«, schlug ich vor. »Herr Dannitzki behauptet immer, nach einer Stunde bei uns würde er sich um Jahre älter fühlen. Aber was ist jetzt mit Papa?«
Sie nickte fröhlich. »Alles klar, mein Schatz. Und jetzt schau mal, was ich hier habe!« Mit triumphierendem Gesichtsausdruck zog sie einen Brief aus ihrer Hosentasche, strich ihn vorsichtig glatt und gab ihn mir.
Ich musste nur den Absender lesen, da war mir alles klar. »Mensch, Jenny, das ist ja wahnsinnig. Seit wann weißt du das?«
Sie lachte glücklich. »Seit letzter Woche. Stell dir vor, ich hätte den Agenten nicht gewechselt, dann wäre bestimmt nie so ein tolles Angebot gekommen. Eine USA-Tournee! Was meinst du, wie viele davon träumen! Ich hätte dich ja gern mitgenommen, aber als ich in deiner Schule anrief, haben die ganz komisch reagiert und gemeint, so was ginge nicht. Von wegen Schulpflicht und so.«
»Du hast echt in der Schule angerufen?«, fragte ich.
Jenny nickte. »Klar doch. Wir hatten ja ausgemacht, dass du dieses halbe Jahr bei mir wohnst, und ich dachte, eigentlich ist es ja egal, ob hier in der Wohnung oder irgendwo in Amerika. Aber das sieht der Direktor deiner Schule anders – ein typischer Bürokrat, das kann ich dir flüstern –
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