FreeBook Nomenclatura - Leipzig in Angst
in diesem Moment eine laute Männerstimme, die Vater Baumeister gehörte. „Hat sich der Junge benommen?“ Die Frage war an Jutta Krahmann gerichtet, die in Gedanken versunken Erik nachgeblickt hatte.
„Ja, ja, Herr Baumeister. – Komm, jetzt Floh, es wird Zeit ...“
Florian stieg in den Opel ein, setzte sich nun selbst auf den Beifahrersitz. Er schaute kurz nach hinten. „Philipp hat seine Preise liegen lassen.“
Mutter Krahmann wendete das Fahrzeug und machte sich auf den Weg nach Hause. „Du kannst sie ihm ja morgen mit in die Schule nehmen, ich fahr jetzt jedenfalls nicht noch mal zurück.“
Unterwegs, auf gerader Strecke, hielt Florian die rechte Hand der Mutter. Die Hand war kalt und zitterte ein wenig.
„Danke, Mama, das war ein schöner Tag. – Und in einem Jahr werde ich zehn ...“
„Erinnere mich nicht daran ...“
Der freie Parkplatz vor dem Haus war natürlich weg und Florian schlief bereits auf dem Beifahrersitz.
Eriks Schritte wurden etwas langsamer, noch einmal drehte er sich um, doch Frau Krahmann, zu der er Jutta sagen durfte, war hinter der Kurve nicht mehr zu sehen. Er nahm das Kinderüberraschungsei aus seiner Preise-Tüte, schüttelte es und hielt es dabei dicht an das Ohr.
Der Junge war nur acht Meter vom Gartentor entfernt, als aus dem Schutz einer Hecke ein Schatten sprang. Eine Hand schob sich vor sein Gesicht, ein beißender Geruch verschlug dem Kind den Atem. Erik Schwarz versuchte sich für einen Moment zu wehren. Doch bevor der Junge auch nur einen einzigen Laut von sich geben konnte, spürte er die unglaubliche Schwere seiner Gliedmaßen, eine Lähmung, gegen die er nichts tun konnte. Dann fiel er ohnmächtig in die kräftigen Arme eines Mannes. Der zog den Jungen über den Kiesweg, dabei glitt Erik Schwarz das Überraschungsei aus der Hand.
Während die fremde Person den Jungen auf den schmutzigen Boden eines Transporters warf und grob ein paar alte Lappen über dem reglosen Körper verteilte, fiel die Plastiktüte mit den restlichen Preisen und Süßigkeiten unter das Fahrzeug. Seelenruhig verriegelte der Fremde die Hecktüren, stieg ein, fuhr mit angelehnter Fahrertür ruckartig los und schmiss die Tür erst in der nächsten Kurve zu.
Niemand hatte ihn gesehen. Die Anonymität der Einfamilienhäuser hatte dafür gesorgt.
Kriminaloberkommissar Holger Hinrich studierte unaufmerksam die gerade eingegangenen Emails. Seit er auf Zigaretten verzichten musste, weil man das Rauchen im Gebäude untersagt hatte, kaute Hinrich stets und ständig auf Kaugummis und Bonbons herum, musste sich ununterbrochen selbst mit Süßigkeiten versorgen.
Das Kommissariat 1, auch liebevoll K 1 genannt, war in Westsachsen zuständig für die Aufklärung von Morden, Entführungen, schweren Sexualdelikten und Großbränden. Von letzteren gab es wegen der vielen leerstehenden Abrisshäuser in Leipzig mehr als genug.
Seit dem frühen Nachmittag schob Hinrich seinen Dienst, unterstützt vom Kriminalassistenten Toni Engler, einem „noch mit Eierschalen hinter den Ohren behafteten Neuling“, wie Hinrich den Zweiunddreißigjährigen gern titulierte.
Der Kommissar schlürfte seinen heißen Kaffee. „Eins muss man dir lassen“, stellte er schließlich fest, während er die Zettel durchblätterte, die sein Drucker gerade ausspuckte, „Kaffee kannst du jetzt endlich kochen.“
Engler sagte lieber nichts. Intellektuelle Diskussionen mit seinem Oberkommissar brachten nichts ein, das wusste der Assistent. Hinrich war ihm erfahrungsmäßig weit überlegen.
Der achtundfünfzigjährige Kriminaloberkommissar sortierte einige Blätter zur Seite. „So ein Blödsinn“, meinte er dann im schönsten Sächsisch, „fünfzehn Blätter mit Text und dazwischen elf Seiten, auf denen nur das Datum steht. Das nennen die nun wissenschaftlich-technischen Fortschritt. Ein Scheiß ist das. Und dafür müssen Bäume sterben ...“
„Dafür sterben keine Bäume“, stellte der Assistent fest und biss sich sogleich auf die Zunge. Nun hatte er eine dieser schier endlosen Diskussionen angeleiert.
„Ach so? Und was ist das hier?“ Hinrich hielt die fast leeren Blätter hoch.
„Das ist Recyclingpapier. Dafür sterben keine Bäume. Das wird aus Altpapier gemacht. Außerdem kann man die als Notizblätter verwenden oder einfach wieder in den Drucker legen.“
Erstaunlicher Weise gab sich Hinrich diesmal schon geschlagen. Er las wieder in den Mails. „Schau mal“, er zitierte, ohne dass Engler wusste woraus,
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