FreeBook Nomenclatura - Leipzig in Angst
„hier schreiben sie was von sexuell motivierten, seriellen Tötungsdelikten. Da sind wesentlich mehr Fremdwörter drin, als ich kenne. Wann begreifen diese Klugscheißer endlich, dass sie mit uns Kriminalisten Deutsch reden können? Wer soll denn diesen Mist verstehen? Hier zum Beispiel: ‚Im Allgemeinen ermöglichen die Phantasien des Täters ein introspektives Erleben. Sie nutzen ihre Taten als Surrogat ihrer unerfüllbaren Leidenschaften. Durch die Obsessionen wird das Bewusstsein des Täters überlagert. Durch Quälen, Foltern und Verstümmeln der Opfer, suggeriert der Täter die Aufgabe der Selbständigkeit des Opfers, das heißt, die prädeliktischen Tötungsphantasien fokussieren eine Pönalisierung.’ – Tut mir leid, das will ich nicht verstehen.“ Hinrich nippte wieder an der Kaffeetasse.
Kriminalassistent Engler zupfte seinem Chef vorsichtig das Blatt aus der Hand. „Serienmörder, die aus sexuellem Antrieb agieren, stellen sich zunächst so etwas wie ein Drehbuch vor, das in ihrem Kopf abläuft.“
Hinrich sah erstaunt zu seinem jungen Kollegen. „Was denn, du verstehst das?“
„Aber sicher“, setzte der Assistent fort. „Diese Vorstellungen sind ihre Spielwiese, das Surrogat, verstehen Sie das auch, Herr Kommissar?“ Engler war der einzige Mensch in der Hierarchie nach unten, der sich das Kriminalober vor dem Kommissar sparen durfte. „Wenn die Obsessionen, die gewaltbesetzten Visionen in die Verwirklichung drängen, dann ist der Täter machtlos gegen sich selbst. Sein Bewusstsein wird wie ausgeknipst. Er überschreitet die Stelle, an der bei ‚normalen’ Menschen sofort eine rote Ampel erscheint. Der Täter wünscht sich nichts mehr, als das Opfer wimmern zu hören, machtlos zu sehen, es zu entmenschlichen, es zu besitzen. Er bewegt sich dann in einer pathologischen Vorstellungswelt, er beginnt sein Opfer zu töten, oft ganz langsam, mit scharfen Messern, Skalpellen oder Rasierklingen, vernichtet die Eigenständigkeit des Opfers, liebt es, das Wimmern, Flehen, Betteln und schmerzerfüllte Schreien des bewegungsunfähigen, malträtierten Opfers zu hören ...“
„Toni!“, weckte Hinrich seinen Assistenten aus der nicht enden wollenden Erklärung. „Das macht einem ja Angst, wie du das sagst! Als hättest du das selbst erlebt.“
„Nicht erlebt, gelernt, Herr Kommissar. – Aber Sie haben es jetzt verstanden, oder?“
„Musste ich ja, das klang schließlich so, als hätten Sie so was schon selbst durchgemacht. – Kripo Leipzig, K1, Kriminaloberkommissar Hinrich am Apparat!“ Das Telefon hatte geklingelt und Hinrich schnappte sich sogleich den Hörer. Dass er dabei die halbvolle Tasse Kaffee über die Tastatur kippte, führte dazu, dass der Kommissar reflexartig und rasch mit dem Drehstuhl zurückrollte, so dass der heiße Kaffee nicht auf seine frischgebügelte Anzughose tropfen konnte. Dabei riss er allerdings die Computermaus vom Tisch, die nun kaffeetropfend an ihrer Schnur baumelte.
Toni Engler holte blitzschnell eine Rolle Wischundweg aus seinem Schreibtischcontainer und riss mindestens zwanzig Streifen des blaugemusterten Papiers ab. Während er die auf dem Schreibtisch des Kriminaloberkommissars verteilte, sprach der in sicherer Entfernung mit einem Streifenpolizisten, den Hörer in der einen und die Maus zwischen den Fingerspitzen in der anderen Hand.
„Jetzt mal ganz ruhig, junger Mann. Nun noch mal von vorne. Eine Kindesentführung? Heute, zum Montag?“
„Ja, Herr Kriminalkommissar ...“
„Ober!“
„Schuldigung, Kriminaloberkommissar. Ein neunjähriger Junge, Tulpenweg siebzehn, Südvorstadt. Schwarz.“
„Was denn, ein schwarzer Junge?“
„Nein, die Leute heißen Schwarz.“
„Ach so ..., na bleiben Sie mal da, nehmen Sie ihr Protokoll auf, wir sind auf dem Weg. – Und Sie sind sich ganz sicher, dass der nicht auf dem Hauptbahnhof spazieren geht?“
„Nein, nein, gute Verhältnisse ...“
Engler tupfte gerade vorsichtig die Tastatur ab.
„Ein Unglück kommt selten allein, Toni.“ Hinrich legte den Hörer auf. „Nichts mit einer ruhigen Nacht. Plaudern und so ... Lass das mal sein, das trocknet irgendwann und versickert selbständig.“
„Was denn, eine Kindesentführung?“ Engler warf die nun braunen Zellstoffläppchen in den Papierkorb.
„Abwarten. – Tulpenweg ... da hatten wir mal einen versuchten Selbstmord. Wenn mich nicht alles täuscht ...“ Hinrich sprach nicht weiter.
Kurze Zeit später fuhr der schwarze BMW mit leichtem
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