Freiflug (Die Ratte des Warlords II) (German Edition)
die Tüte mit den Teigtaschen ab. "Ich decke solange den Tisch."
Kepler f ührte den resoluten Befehl aus. Als er zurückkam, standen auf dem Tisch ein Teller mit den erkaltenden Beljaschi, ein Schälchen mit alten verklebten Bonbons, Roggenbrot, Rahm im Glas und ein Stück Gurke. Wahrscheinlich alles, was die alte Frau hatte.
"Die Beljaschi reichen", sagte Kepler und setzte sich. "Sie brauchen nicht noch mehr aufzutischen."
" Na gut." Die Frau nahm Platz. "Guten Appetit", wünschte sie leise.
" Ihnen auch."
Sie murmelte lautlos ein Gebet, bekreu zigte sich und begann zu essen.
Kepler musterte sie unauffällig, während er eine Teigtasche kaute und so tat, als würde er zum Fenster hinausblicken.
Diese Babuschka war wie seine Oma. Beide hatten sie ein schweres Schicksal ertragen müssen, beide hatten in ihrem Leben Schlimmes erlebt. Und doch – es gab Unterschiede. Während seine Oma wenigstens ihren Lebensabend würdig zugebracht hatte, war diese Frau so weit davon entfernt wie es in Europa nur möglich war. Ohne Kepler anzublicken, aß sie in kleinen Happen, bemüht, nicht einen Tropfen des Fleischsaftes zu verlieren. Sie hatte Hunger, dennoch aß sie so würdig, wie es bestimmt niemand auf der Party tat, wo Galema jetzt war, und wo man mit Sicherheit sogar den Kaviar löffelweise mampfen konnte. Und sie zögerte, den nächsten Beljasch zu nehmen, obwohl es mehr als genug gab.
Kepler aß vier Teigtaschen auf, damit die Frau keine Hemmungen hatte, sich satt zu essen. Danach versuchte sie ziemlich lange, ihn zu überreden, die beiden restlichen Beljaschi aufzuessen, er sei schließlich ein junger starker Mann und sie eine alte kleine Frau. Schließlich einigten sie sich darauf, dass sie die Teigtaschen für Morgen aufheben würde. Ihre Hände zitterten nicht mehr so stark, als sie sich erhob, um den Tee zu machen.
"Ha ben Sie das Tuch für Ihre Frau gekauft?", fragte sie, während sie einen Kessel auf den Herd stellte.
"Nein", antwortete Kepler. "Ich habe keine."
"Für Ihre Mutter?", fragte die alte Frau und setzte sich wieder hin, nachdem sie losen Tee in einen Keramikkessel eingefüllt und Zucker hingestellt hatte.
"Sie ist tot", antwortete Kepler unbedacht.
"Och, Söhnchen", machte die alte Frau traurig.
Genauso wie man alte Frauen Babuschka nannte, nannten diese Frauen junge Männer i mmer Söhnchen.
"Schon gut", sagte Kepler. "Ich war noch klein, als sie gestorben ist."
"Och", sagte die Frau trotzdem traurig und sah Kepler mit Mitleid an. "Hast du denn wenigstens deinen Vater?"
" Nein. Sie starben beide bei einem Autounfall."
"Wo bist du denn groß geworden?"
Kepler lächelte.
"Bei meiner Babuschka."
"Ist das Tuch dann für sie?", fragte die Frau ebenfalls lächelnd.
" Nein."
Die alte Frau warf einen Blick auf ihn, dann schwieg sie eine Weile.
"Und wo kommst du denn weg? Eine seltsame Aussprache hast du."
Russisch war die zweite Fremdsprache, die Kepler außerhalb der Schule g elernt hatte. Er hatte in der Sportschule damit angefangen und es bei der Bundeswehr fortgesetzt. Ihm gefiel die Ungezwungenheit des Russischen, und – so blumig konnte man in keiner anderen Sprache fluchen. Kepler sprach Russisch gut und fast akzentfrei, er hatte viel mit Russlanddeutschen üben können. Manche von ihnen kamen aus Orenburg, deswegen kannte er auch die Stadt etwas.
"Aus Deutschland ."
"Bist du etwa Deutscher?"
"Ja."
"Bist du einer von unseren Deutschen?"
"Nein, bin ein gebürtiger Germane. Von euren habe ich Russisch gelernt."
"Ihr Deutschen seid ein sonderbares Volk", sagte die alte Frau.
Kepler sah auf ein vergilbtes Foto in einem schlichten Holzrahmen, das auf der Fensterbank stand. Der junge Mann auf dem Portrait trug eine Uniform.
"Ist Ihr Vater im Krieg gefallen?"
"Mein Bruder, im Winter zweiundvierzig, meinen Vater hat Stalin umgebracht." Die Frau seufzte. "Wir dachten erst, ihr wärt Befreier. Aber ihr wart genauso schlimm. Ihr seid in unser Land gekommen und habt es verbrannt."
"Es tut mir leid", bat Kepler leise.
Der Kessel auf dem Herd pfiff in immer höherem Ton, als das Wasser zu kochen anfing. Die Frau erhob sich schwer, nahm ihn und goss den Tee auf.
" Nun helft ihr uns", sagte sie versöhnlich. "Ihr seid nicht anders als wir." Sie lächelte. "Ich kenne Deutsche, unsere, ich habe in ihrem Dorf gelebt und dort als Lehrerin gearbeitet. Bin weggegangen, weil ich kein Deutsch konnte." Sie machte eine nachdenkliche Pause. "Sie bauten Häuser für die Ewigkeit, malochten von
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