Freiheit
ältere zögern lässt. Es ist die Anarchie von Revolte,
Aufstand und Aufruhr, die Bindungslosigkeit und Herrschaftsfreiheit sucht und mit großem Gestus und oft mit jeder Menge Übermut versucht, eine wunderbare Ungebundenheit ins Leben zu rufen.
Jeder von uns, ob politisch interessiert oder nicht, kennt wenigstens Anflüge davon. Denn wir alle sind nicht davor bewahrt worden, durch eine Zeit zu gehen, die den Erwachsenen ein Gräuel ist: die Pubertät. Mit 14, 15 oder 16 Jahren ahnen und wollen wir, was Freiheit ist. Wir spüren die tiefe Sehnsucht danach, ungebunden zu sein, nicht kommandiert zu werden, selbst unsere Maßstäbe zu bestimmen und zu setzen: Ich möchte dann ins Bett gehen, wann ich es will; ich möchte diese Frau küssen und umarmen und heiraten, wann ich will; ich möchte den Beruf ergreifen, den ich will, und dazu Ja sagen, wozu ich Ja sagen möchte. Das sind in etwa die Fragen und Bedürfnisse, in denen der dringliche Wunsch von Jugendlichen nach Freiheit und Ungebundenheit zum Ausdruck kommt.
Da ist sie, die junge Freiheit; sie ist Befreiung.
Ähnlich ungebärdig ist die junge Freiheit auch auf der politischen Ebene.
So ist zum Beispiel die große Französische Revolution (1789-1799) nicht deshalb ins Leben getreten, weil es eine motivierende Revolutionstheorie gegeben hätte, die die Menschen auf die Straßen gebracht hätte. Vielmehr trieben hohe Steuern und eine Hungersnot die Menschen auf die politische Bühne. Erst danach entwickelte sich die »Lehre« von der Revolution, erst dann kamen die ideologischen Revolutionäre - und die Freiheit erhielt ein anderes Gesicht.
Friedrich Schiller, der die Anfänge dieser Revolution mit Sympathie verfolgt hatte, war über den anschließenden Terror zutiefst erschrocken.
Uns allen klingen die Ausrufe des Schreckens in den Ohren, die Schiller über das »rohe gesetzlose Treiben« in seiner Ballade »Das Lied von der Glocke« ausstieß:
»Weh, wenn sich in dem Schoß der Städte
Der Feuerzunder still gehäuft,
Das Volk, zerreißend seine Kette,
Zur Eigenhilfe schrecklich greift! ...
Da werden Weiber zu Hyänen,
Und treiben mit Entsetzen Scherz,
Noch zuckend, mit des Panthers Zähnen,
Zerreißen sie des Feindes Herz ...«
Ja, Schiller hat den Terror gesehen. Ob er sich über die französische Ehrenbürgerschaft gefreut hat, wissen wir nicht. Aber wir wissen, dass er die Emancipation des Menschengeschlechts für verfrüht hielt, weil die Subjekte noch nicht reif seien für eine vernunftgeleitete Gesellschaft. Vor der Fratze der ungezügelten Freiheit also hat Schiller sich gefürchtet - und die Freiheit einer humanisierten Gesellschaft trotzdem lieb behalten.
Auch wir schauen uns nach einer Variante von Freiheit um, die man nicht fürchten muss, weil sie anarchisch ist, die nur die Ungebundenheit, den Aufruhr, nur die Freiheit von etwas kennt. Auch wir haben den Hang zu einer Freiheit, in der wir, wie es uns die Philosophen und Ethiker gelehrt haben, frei sind für etwas und zu etwas. Das habe natürlich nicht ich erfunden, sondern schon als Student etwa von Kant gelernt und von Eltern und Kirche vermittelt bekommen. Wie schwierig es aber ist, diese Erkenntnis ins Leben zu rufen, habe ich erst viel später begriffen.
Ich möchte das mit einem Blick auf das Jahr 1989 erläutern: Wie einfach war es und wie verbunden waren wir alle miteinander, als wir ablehnten, was uns klein machte und uns zu nutzlosem Beiwerk des Staates erklärte. Die DDR-Regierung nannte uns zwar »Bürger«. Und »Bürger, weisen Sie sich aus!«, sagte der Volkspolizist, wenn er junge Menschen auf der Straße anhielt - das passierte nicht eben selten - und sie brav und gehorsam ihre Personalausweise herausziehen mussten, um nachzuweisen, dass sie eben diejenigen seien, die dort bezeichnet waren.
Sie nannten uns also Bürger. Dabei wussten wir, gelehrt von der europäischen Aufklärung und einigen Staaten, in denen Demokratie schon zu Hause war, dass Bürger diejenigen Menschen sind, die Bürgerrechte haben und diese auch ausüben können. Wir, die wir diese Bürgerrechte nicht hatten, waren zwar auch wertvoll und hatten auch unsere Würde - aber Bürger waren wir nicht.
Ich habe mich in einer bestimmten Etappe meiner DDR-Existenz daher daran gewöhnt, die DDR-Bürger als »DDR-Bewohner« zu bezeichnen. Bis mir auffiel, dass auch dies ein Euphemismus ist. Denn Bewohner eines Hauses können das Gebäude auf- und zuschließen, sie können hinein- und hinausgehen.
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