Freiheit
Wesen da zu sein - es zu schützen, es zu bewahren, es ihm schön zu machen, ihm ein Nest zu schaffen.
Wenn ich darüber nachdenke, fällt mir immer meine jüngste Tochter ein.
Noch vor zwei Jahren führte sie bewegte Klage über ihre ehemaligen Kommilitoninnen. Sie waren alle begeisterte Mütter geworden, während meine Tochter fand, das Leben dieser Personen sei in einer unakzeptablen Weise eingeschränkt. Sie wisse nicht, ob sie so etwas je akzeptieren könne. Nun, man ahnt es schon: Vor einem Jahr hat mir diese kostbare Frau mein jüngstes, mein neuntes Enkelkind geschenkt. Und jetzt überbietet sie alle anderen, die sie vorher kritisiert hat, an Hinwendung.
Es hat sich etwas total in ihr gewandelt in dem Augenblick, als eine neue Lebenswirklichkeit den Schwerpunkt in ihrer Person verlagert hat.
Wir begreifen: Wir sind geboren zur Lebensform der Bezogenheit. Wir erleben sie als eine zentrale Menschenmöglichkeit, lange bevor wir sie politisch als Bürgerinnen und Bürger erfassen - meist keinesfalls als erdrückende Last, sondern als glückhaftes Geschehen, als Teil unserer humanen Existenz.
Und das nicht nur in den engen personalen Beziehungen. Wir kennen Journalisten, die trotz großer Gefahr aus Krisengebieten berichten, Forscher, die sich für ihr Wissensgebiet aufopfern, Menschen, die einstehen für ihren Glauben, die Menschenrechte, ihre Heimat, für Kunst und Kultur.
Jeder von uns mag einen anderen zentralen Gedanken, eine zentrale Erfahrung oder eine zentrale Begrifflichkeit für diese Wirklichkeit haben.
Mir als evangelischem Theologen kommt aus der Heiligen Schrift der Juden und Christen eine ganz besondere Sentenz ins Bewusstsein - ein Abschnitt aus dem Buch Genesis, der in der Luther-Übersetzung folgendermaßen lautet: »Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zu Gottes Bilde schuf er ihn« (1 Mos/Gen 1,27).
In meinen jungen Jahren hat mich dieses Wort eher erschreckt. Denn ich begann mein Theologiestudium in der Nachkriegszeit, als jeder halbwegs denkende und empfindende Mensch tief verunsichert war, wenn er ein Deutscher war. Ich mochte dieses Land nicht mehr, ich mochte diese Kultur nicht mehr, die die Barbarei nicht verhindert hatte und uns in eine tiefe Schuld geführt hatte. Ich mochte den Glauben nicht mehr und konnte kein Loblied auf Gott singen. Es erschien mir eine unüberwindliche Aufgabe, nach Auschwitz an Gott zu glauben. Und ich weiß nicht, wie oft ich diesen Glauben unterwegs fast verloren hatte und wann ich ihn wiedergefunden habe.
Damals konnte mir ein anthropomorpher Gottesbegriff wenig Verheißung sein. Er erschien eher als eine Bedrohung. Und ich hoffte, nie darüber predigen zu müssen. Ich weiß nicht mehr, wie ich es geschafft habe, tatsächlich nicht darüber zu predigen - wahrscheinlich habe ich diesen Text manchmal einfach ausgegrenzt.
Dann aber fiel mir vor ein paar Jahren plötzlich eine Interpretation ein.
Ich begriff bei einem Lesen etwas neu, das sich in meinem Leben schon abgezeichnet hatte. Ich konnte jetzt so lesen: Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde mit der wunderbaren Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen.
Es gibt so viele Geschöpfe auf der Erde, aber nur eines mit der Fähigkeit, für sich selbst, für das Du neben uns und den Raum um uns herum Verantwortung zu übernehmen. Irgendwann habe ich mich sogar getraut, vor Alttestamentlern an einer deutschen Universität diese Interpretation vorzutragen und - was soll ich sagen? - sie schienen irgendwie froh darüber. Und da sie keinen Widerspruch angemeldet haben, dachte ich: Ich kann Verantwortung also aus meinem Glauben herleiten. Und ich fand und finde es großartig, etwas in uns zu wissen, das mit seiner Potenz uns mit unseren begrenzten Kräften überbietet. In unserer Verantwortungsfähigkeit steckt ein Versprechen, das dem Einzelnen wie dieser ganzen Welt gilt: Wir sind nicht zum Scheitern verurteilt.
Dies zu entdecken, hat mich das Leben gelehrt und nicht nur das Nachsinnen und Nachverfolgen edler Gedanken von Menschen, die fähig sind, Gedichte zu schreiben, die ich sehr liebe, oder Traktate und Essays.
Ich habe es im Alltag gelernt.
Es ist freilich so, dass Verantwortung und Bezogenheit nicht nur von Glaubenden, von Christen, von Juden, Muslimen oder anderen Gläubigen gelebt werden können. Für mich ist die religiöse Wertsetzung so stark, weil sie in Tiefen meiner Seele reicht, in der die intellektuellen Begründungen für Wohlverhalten und Menschlichkeit nicht gegründet
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