Freimaurer, Illuminaten und andere Verschwörer
regelmäßig in Narbonne, um durch Los zu bestimmen, in welchem Ort ein christlicher Junge geopfert werden solle. Diese Vorwürfe tauchten im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit immer wieder auf und mussten als Begründung für Pogrome herhalten, denen Tausende von Juden zum Opfer fielen. Weil die Juden unter dem Schutz der Obrigkeit standen, konnte die Bevölkerung zudem ihrem Unmut über den Landesherrn Luft machen, indem sie die Schutzjuden angriff. Damit trafen sie die Obrigkeit, ohne sie direkt herauszufordern und sich eventuellen Vergeltungsmaßnahmen auszusetzen.
Andersherum konnte der Landesherr den Ärger seiner Untertanen dadurch beschwichtigen, dass er die Juden vertrieb oder ihnen seinen Schutz entzog. Aus den verschiedenen Regionen des Deutschen Reichs wurden die Juden gleich mehrfach vertrieben, aus Frankreich 1306 und 1394 , aus England 1290 , aus Spanien und Portugal 1492 und 1496 . Die Kirche forderte bereits auf dem zweiten Laterankonzil von 1215 , Juden und Christen voneinander zu trennen. In den Städten wies man ihnen eigene Wohnviertel zu, und sie mussten ein besonderes Kennzeichen an der Kleidung tragen (spitzer Hut oder gelber Fleck). Die Kirche begründete das mit dem so genannten doppelten Schutzprinzip. Die Absonderung sollte die Christen vor den Juden schützen, während die Kirche gleichzeitig die Aufgabe übernahm, die Juden vor den Übergriffen der Christen zu schützen. Die Kirche wies bis ins neunzehnte Jahrhundert die immer wieder aufkommenden
Vorwürfe der Ritualmorde und des Hostienfrevels gegen die Juden zurück.
Im achtzehnten Jahrhundert lebten in Westeuropa trotzdem nur noch sehr wenige Juden. Sie stellten in Frankreich, England und Italien nur wenige Promille der Bevölkerung. Die meisten mitteleuropäischen Juden waren im Laufe der Jahrhunderte nach Osten ausgewandert und wohnten in einem Streifen vom Baltikum über Polen bis zum Schwarzen Meer. In einigen Landstrichen waren dort mehr als zehn Prozent der Bevölkerung Juden. Mit der Auflösung der Ghettos und dem Beginn der Judenemanzipation im neunzehnten Jahrhundert änderte sich das Bild: Waren die Juden vorher ein Volk unter den Völkern Europas, so strebten viele Juden in Westeuropa jetzt an, innerhalb der Nationen zu normalen Bürgern jüdischen Glaubens zu werden. In Osteuropa, besonders in Russland, blieb dagegen der Charakter eines einheitlichen Volkes weitgehend erhalten, ebenso jedoch auch die diskriminierenden Gesetze. Viele osteuropäische Juden wanderten in dieser Zeit nach Amerika, Deutschland und Österreich aus.
Bis ins neunzehnte Jahrhundert gab es keine systematische Judenverfolgung. Erst mit der Judenemanzipation, als die Juden West- und Mitteleuropas nach und nach normale Bürgerrechte bekamen, setzte ein gezielt betriebener Antisemitismus ein. Seine mächtigsten Propagandisten waren die katholische und die russisch-orthodoxe Kirche sowie einige einflussreiche Vertreter der evangelischen Kirchen.
Die Juden und die katholische Kirche
Bereits im achtzehnten Jahrhundert ließ die Macht der katholischen Kirche nach. Große Teile Europas hatten sich dem protestantischen Glauben zugewandt. Die Philosophen der Aufklärung propagierten den Deismus und griffen offen die Autorität der Kirche an. Die Französische Revolution begründete eine säkuläre Republik
und bestimmte unter anderem die völlige Gleichberechtigung der Juden. Diese Entwicklung machte das doppelte Schutzprinzip zu einem Anachronismus. Dennoch hielt die katholische Kirche uneinsichtig daran fest.
Als Reaktion auf die Judenemanzipation kam die neue Theorie auf, die Juden wollten zusammen mit den Freimaurern die alte Ordnung Europas beseitigen. Konservative in Frankreich, Deutschland und England sowie Teile des Klerus sahen die Juden in einem internationalen Geheimbund mit Freimaurern, Liberalen und Sozialisten vereint. Zugleich erhoben die Sozialisten den Vorwurf, dass die Juden den Adel stabilisierten, indem sie ihm immer wieder Kredite gaben, und dass besonders das in Europa weit verzweigte Bankhaus Rothschild über seine Kreditbedingungen die Politik der Nationalstaaten weitgehend diktierte.
Erstaunlicherweise überlagerten sich die alten und neuen Vorwürfe, sie lösten einander keineswegs ab. Noch im Jahre 1871 veröffentlichte der Münsteraner Theologe August Rohling das Traktat
Der Talmudjude
, in dem er versuchte, die Wahrheit des Ritualmordvorwurfs anhand einer verzerrten Talmud-Interpretation zu beweisen. Er löste damit einen
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