Freitags Tod
habe ich seinen Augen gezeigt. Ich lege sie zum Beweis bei. Auch ich selbst konnte das Schlechte lange nicht sehen. Seit ich alles weiß, kann ich nicht mehr leben. Gott und meine Kinder mögen mir vergeben.«
Die Unterschrift drängte sich an die letzte Zeile. Conrad ließ die Lampe sinken und starrte in den Regen.
»Kennst du die Tote?«, fragte der Vermummte.
»Ja.« Zu mehr war er nicht fähig. Er legte die Dokumente wieder in die Tasche und gab sie an den Vermummten zurück.
»Warum machen Menschen so was. Und noch dazu kurz vor Weihnachten.«
Allmählich erwachte Conrad aus seiner Erstarrung.
»Bringst du die Sachen ins Labor? Wir treffen uns im Präsidium. Ich glaube, ich muss mich um Julia kümmern.«
Der Kollege blickte zu Julia hinüber, die wie festgeschweißt an dem Zaunpfeiler klebte, nickte kurz und ging davon.
»Komm zurück zum Wagen. Du bist ja ganz durchgeweicht«, sagte Conrad und fasste Julia am Arm. Widerstandslos ließ sie sich von ihm führen. Er hielt ihr die Beifahrertür auf und schob sie auf den Sitz. Er startete den Motor und regelte die Heizung hoch. Das Gebläse übertönte den Regen, der aufs Dach fiel.
»Ich kann das nicht mehr, Conrad«, sagte Julia.
»Eine schlimme Sache. Die hätten die Freitag in der Klinik behalten sollen. Hat denn von denen keiner gemerkt, dass die so drauf ist?« Am liebsten hätte er weiterreden wollen, reden und reden, aber es gab nichts zu sagen.
»Du verstehst mich nicht. Ich kann das nicht mehr. Ich höre auf.«
Sein Kopf fuhr herum. »Nun warte doch erstmal ab. Ein Selbstmord auf den Schienen ist immer furchtbar. Falls es einer war. Das müssen wir erst noch ermitteln.« Was für einen Blödsinn er von sich gab.
»Was sollte es sonst sein? Der Abschiedsbrief … Ach, was sage ich. Das weißt du selbst. Und dieses …«, sie machte eine Pause, um nach Worten zu suchen, »dieses Glas.« Dann schüttelte sie sich. »Sie hat es die ganze Zeit aufbewahrt. Das ist krank. Der ganze Fall ist krank. Aber er ist abgeschlossen. Endlich. Sie hat ganz Recht. Es musste zu Ende gebracht werden. Jetzt ist es zu Ende. Auch für mich.« Tränen strömten über ihre Wangen.
»Ich fahr dich ins Präsidium und ruf einen von den Polizeipsychologen an. Das geht allen mal so. Das kommt wieder in Ordnung.«
»Nein«, sagte sie laut. »Nein. Ich konnte das noch nie. Ich hätte nicht Polizistin werden dürfen. Und jetzt höre ich auf damit.« Sie blickte Conrad ins Gesicht, aus Augen groß und dunkel wie Kieselsteine. »Fahr mich nach Hause, Conrad.« Als er nicht reagierte, fügte sie »bitte« hinzu.
Wasser rann die Windschutzscheibe hinab. Langsam setzte sich der Wagen in Bewegung. Die Häuser, die Straßen und Plätze versanken in Regen und Dunkelheit. Und übermorgen war Weihnachten.
Sophie
Er schreit und schreit und schreit. Sophie hat einen Weihnachtsbaum in der Diele aufgestellt mit Sternen und Engeln, damit er sich freut. Aber er freut sich nicht. Er schreit. Sie hält sich die Ohren zu, steigt die Treppen hinab und geht in die Küche. Das Schreien bleibt zurück, wird leiser, endet nicht. Keiner da. Henry wollte kommen, sie weiß nicht mehr wann. Und Mutter ist fort. Mutter hat immer Plätzchen gebacken. Die mit Vanille mochte sie am liebsten. Sophie kann das nicht. Sie kann nichts tun wie Mutter.
Die Milchflasche warm machen, den Sauger aufstecken, hinaufgehen. Das Schreien wird laut. Die Nacht ist endlos und schwarz wie die Hölle. Sie ist so müde. Er liegt in ihrem Bett, das winzige Gesicht zur Grimasse verzerrt, den Mund aufgerissen. Sie schiebt den Sauger hinein, und er wird still. Erst passiert nichts. Die Stimme in Sophies Kopf sagt, er hasst dich, alle hassen dich. Dann trinkt er, nuckelt an dem Plastikding, verschluckt sich, schreit. Nicht mal das kannst du, sagt die Stimme. Er wird dich immer hassen. Sophie spürt Tränen auf ihren Wangen. Er liebt mich, sagt sie. Er ist mein Sohn. Was für ein Sohn, höhnt die Stimme. Der Sohn trinkt wieder. Säuft die Flasche leer. Sophie legt sich neben ihn. Jetzt ist er still, sieht sie nur an mit seinen großen grauen Augen. Diese Augen kennt Sophie. Es sind dieselben Augen, die sie angesehen, durchbohrt haben, immer schon, seit sie auf der Welt ist. Er hasst dich, sagt die Stimme. Sophie denkt an das Messer. Dann verrutscht die Zeit.
ENDE
Die A utorin
Die Coesfelder Autorin, geboren 1961 (kurz nach der Mauer) hat in Leipzig Medizin studiert und ist ausgebildete Fachärztin für Anästhesiologie und
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