Freitags Tod
Bild, um Halt zu finden. Ein gutes, tröstliches Bild. Nur fand sie keines. Einige Minuten mussten vergangen sein, bis sie den Geruch wahrnahm, der von dem Leichnam neben dem Schreibtisch ausging. Schwindel erfasste sie. Rasch schlug sie die Augen auf. Das Würgen im Hals wurde stärker, aber sie konnte nicht fort, stierte auf das Ungeheuerliche. Die Beine des Toten steckten in Gottfried Freitags grauen Hosen. Auch trug er die dazu gehörende Jacke des Chefs, sie hatte den Anzug gestern aus der Reinigung geholt. Das Gesicht konnte Irina aus ihrem Blickwinkel nicht erkennen. Das wollte sie auch nicht. Sie wollte nicht sehen, was damit geschehen war, wo sie doch schon zu viel gesehen hatte. Schwarzes Blut – zu Streifen und Klumpen auf dem hellblauen Hemd über dem Brustkorb geronnen. So viel Blut.
Die Fenster müssten geputzt werden, dachte Irina sinnlos. Durch junge Buchenblätter und trübe Scheiben blinzelte die Sonne. Sie malte Lichtkringel auf den Schreibtisch, auf den Boden, auf die Papiere und auf das Telefon. Irina trat einen Schritt näher. Dann sah sie das Gesicht. Die Stelle, wo das Gesicht hätte sein müssen.
Sie wandte sich ab und erbrach sich in einem Schwall. Schweiß klebte die blonden Strähnen der neuen Kurzhaarfrisur an die Stirn. Sie atmete tief und schnell. Ihr schwindelte wieder.
»Ruhig«, flüsterte sie, »ruhig«. Sie sagte es in ihrer Muttersprache und fühlte, wie der Klang der Worte ihr half, die Wand hinter sich zu ertasten. Langsam ließ sie sich an dem kühlen Putz hinabgleiten und fixierte die Spitzen ihrer Sportschuhe.
Nach einer Weile erhob sie sich und wagte einen zweiten Blick auf den Toten. Das kantige Kinn Gottfried Freitags ragte in die Luft. Sie wusste, dass sie etwas tun musste. Es war ja nicht so, dass sie noch nie einen Toten gesehen hätte. Im Gegenteil. Aber im Krankenhaus steckten sie unter weißen Laken, die Augen gnädig geschlossen, ein Kreuz auf der Brust, wenn sie und ihre Kollegin sie fertig gemacht hatten, bereit zur letzten Ruhe. So hatten Tote auszusehen. Und überhaupt, es waren alte Menschen, Kranke, manchmal Kinder. Das war schlimm. Aber sie waren krank gewesen, schwer krank.
Gottfried Freitag war nicht krank. Als er sie gestern zusammengestaucht hatte wegen des Wasserflecks auf dem Flur, den sie übersehen hatte, war er kerngesund. Herr Freitag war kein freundlicher Mensch, dachte Irina und schlug die Hand vor den Mund, als könnte sie so den schändlichen Gedanken ungeschehen machen. Nicht nur, dass er sie wegen jeder Kleinigkeit maßregelte, er verband seine Tiraden meist mit der Drohung, sie zu entlassen. Und sie konnte sich nicht wehren. Wie auch? Sie bekam das Geld für die Arbeit im Seniorenheim und im Haus der Freitags wöchentlich in einem weißen Umschlag.
Ihr Unmut gab ihr die Kraft, aufzustehen und sich abzuwenden. Sie zog das Handy aus der Tasche, musste die Polizei rufen. Aber dann würde man Fragen stellen, und Irina Glück hatte nur das Touristenvisum, keine Arbeitserlaubnis, keinen Vertrag. Sie hatte nichts. Verzagt ließ sie das Handy sinken und betrachtete das Display. Vielleicht sollte sie eine der Pflegerinnen bitten.
Der Gang des Erdgeschosses lag verlassen. Hier unten befanden sich die Büroräume, ein Friseur, der noch nicht geöffnet hatte, und eine hübsch eingerichtete Cafeteria. Irina fehlte die Kraft, in den ersten Stock zu gehen, und ihr fehlten die Worte, das Unaussprechliche mitzuteilen. Aber sie konnte schließlich nicht einfach nach Hause, sich die Decke über den Kopf ziehen und warten, bis man sie fand. Leise, als ob sie jemanden stören könnte, schloss sie die Tür und wählte die Nummer der Polizei.
2
Conrad Böse war schon so oft mit seinem Citroën nach Billerbeck gefahren, dass er kaum auf die Straße achtete und in den Anblick des zartrosa Morgendunstes über den Feldern und Wallhecken versunken war. So ging er die Kurve viel zu schnell an, um in den Seitenweg einzubiegen und bekam den XM Combi gerade noch unter Kontrolle, als sein Handy klingelte. Mit Links tastete er in die Innentasche seines Trenchcoats, klemmte das Gerät zwischen Ohr und Schulter und lauschte.
»Hör zu …«. Er runzelte die Stirn. Jetzt hatte er wirklich keine Lust, mit Anke zu diskutieren. Aber seine Exfrau hörte nicht zu. Das tat sie nie.
»Ich sehe kurz nach Mutter, dann bin ich da«, sagte er und wollte auflegen. Aber Anke war noch nicht fertig.
»Ich weiß. Ich hole Sammy sofort ab.« Es reichte. Genervt warf er das Gerät
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