Freiwild Mann
zwölf Jahren ununterbrochen Premierministerin der Republik Anglia war. Dies war ihr sechster offizieller Auftritt in der Lichthalle.
Als eine Vernichterin erster Klasse, die gerade ihre Ausbildung abgeschlossen hatte, saß Rura nur vier Reihen vom Rednerpult entfernt. Rechts von ihr saß ihre Nachfolgerin, eine Novizin. Direkt vor ihr am Redepult stand jetzt Curie Milford. Hinter der Premierministerin gab es eine Stuhlreihe, auf der verschiedene Würdenträgerinnen und die Leiterin des Colleges saßen. Dahinter saßen auf ansteigenden Reihen die restlichen Ausbilder, darunter auch Leutnant Kayt.
Kayt fing Ruras Blick auf und lächelte. Rura versuchte zurückzulächeln; aber sie fühlte, wie ihr das Lächeln auf den Lippen gefror. Sie war sich der Anwesenheit des weißgewandeten Mädchens neben ihr, einer Achtzehnjährigen mit Namen Jolan Knight, fast körperlich bewußt.
Nur eine Stunde vor Beginn der Zeremonie war sie mit Jolan bekannt gemacht worden, bei der offiziellen Überreichung des Zimmerschlüssels. Jolan hatte ihr schwarzes Gewand, das Abzeichen ihrer Erstklassigkeit, den silbernen Nippel und den goldenen Schädel mit den gekreuzten Knochen ehrfurchtsvoll bis bewundernd angeschaut. Sie hatte gesagt, daß sie sich dessen bewußt sei, das Zimmer einer herausragenden Graduierten zu übernehmen. Sie hoffe, sich dieser Ehre würdig zu erweisen. Auf eine nicht besonders subtile Art hatte sie sich selbst angeboten. Vielleicht hätte es ihr Selbstvertrauen gesteigert, wäre sie von einer Vernichterin umarmt worden, die den silbernen Nippel der Ritterlichkeit verliehen bekommen hatte. Oder vielleicht hatte sie auch nur ein wenig angeben wollen. Sie war ein hübsches Mädchen, voller Tatkraft, Unschuld und Enthusiasmus. Rura verspürte tiefstes Mitgefühl mit ihr. Sie tat ihr leid. Vernichtungstheorie zu lernen war leicht. Etwas völlig anderes war es, von Angesicht zu Angesicht einem Rückschreiter in der Heide gegenüberzustehen … Sie fragte sich, was die ehrfurchtsvolle Jolan wohl sagen würde, würde sie erfahren, daß diese Vernichterin mit dem silbernen Nippel sich dafür entschieden hatte, Diarmid MacDiarmid nicht zu vernichten …
Die Hymne Oh Göttin, uns’re ew’ge Stütze war zu Ende. In der Lichthalle herrschte Schweigen. Der Moment für Curie Milfords Rede war gekommen.
Sie war eine große Frau, überraschend groß, beinahe zwei Meter groß, aber herrlich proportioniert. Und sie wußte ihr Alter wohl zu tragen. Sie mußte siebzig Jahre alt sein, aber sie hatte immer noch langes goldenes Haar, lebhafte blaue Augen und das Gesicht einer Frau, die wahlweise streng, leidenschaftlich oder beherrschend sein konnte. Sie hatte eine hypnotische Ausstrahlung. Gerüchte besagten, daß drei ihrer Liebchen Selbstmord begangen hatten, nachdem sie Schluß mit ihnen gemacht hatte.
„Schwestern, Frauen, Vernichterinnen“, hob Curie Milford an, „dies ist ein ebenso stolzer Tag für mich wie für euch, die ihr jetzt, nach zwei Jahren Arbeit, nach zwei Jahren strengster Disziplin und härtesten Trainings, den Schädel mit den gekreuzten Knochen tragen dürft. Es ist ein stolzer Tag für mich, da ich heute bereits zum sechsten Mal in der Lichthalle sprechen darf, was, wie ihr sicher wißt, einmalig in unserer Geschichte ist. Es könnte gut sein – denn der Unsicherheitsfaktor in der Politik ist ebenso groß wie der beim Pferderennen daß dies auch das letzte Mal sein wird.“
Höfliches, skeptisches Lachen, Zwischenrufe: „Bleibe bei uns, Curie.“
„Also“, fuhr das Staatsoberhaupt fort, indem sie sich ihr goldenes Haar aus der Stirn schob und damit die Aufmerksamkeit auf dessen Länge und Frische lenkte, „werde ich zu euch sprechen, als sei es das letzte Mal. Wenn ich bei der bevorstehenden Wahl nicht im Amt bestätigt werde, dann werde ich zumindest die Genugtuung haben zu wissen, daß ich euch, Vernichterinnen, auf denen der Frieden dieses Landes beruht, genau das gesagt habe, was meine Meinung ist.
Es ist jetzt mehr als zweieinhalb Jahrhunderte her, daß wir das Joch der Sklaverei abgeworfen haben, indem wir die letzten Männer, die letzten Unruhestifter, aus der zivilisierten Gesellschaft der Republik Anglia verbannt haben. Sie dachten, sie seien unersetzlich. Sie dachten, die Frauen könnten ohne sie nicht auskommen. Die Geschichte beweist, wie unrecht sie hatten. Wie völlig falsch sie lagen.“
Beifall, Gelächter, Zustimmung.
„Seit zweihundertfünfzig Jahren“, fuhr Curie Milford,
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