Fremd fischen
Long Island Railroad Company.»
Dex saß ruhig vor seinem geschlossenen Buch, während alle andern nervös den Fall aufschlugen, den wir als Hausaufgabe bekommen hatten.
« Hätte die Klägerin Schadenersatz zugesprochen bekommen müssen?», fragte Zigman.
Bei dem Fall ging es um einen Eisenbahnunfall. Ein Bahnangestellter, der eilig einen Zug besteigen wollte, hatte einem Fahrgast ein Paket Dynamit aus der Hand geschlagen, wodurch ein anderer Fahrgast, nämlich Mrs. Palsgraf, verletzt wurde. Richter Cardozo hatte das Mehrheitsvotum vertreten und erklärt, Mrs. Palsgraf sei keine«vorhersehbare Klägerin»und könne
daher keinen Anspruch auf Schadenersatz durch die Eisenbahngesellschaft erheben. Der Bahnangestelle hätte vorhersehen können, dass der Träger des Pakets Schaden erleiden werde, nicht aber Mrs. Palsgraf.
Dex sagte nichts. Eine Sekunde lang erfasste mich Panik, und ich befürchtete, er sei zur Salzsäule erstarrt wie schon andere vor ihm. Sag Nein , beschwor ich ihn inbrünstig. Bleib beim Mehrheitsvotum. Aber als ich sein Gesicht und die verschränkten Arme sah, wusste ich, dass er sich nur Zeit ließ, in klarem Gegensatz zu den meisten Erstsemestern, die hastige, nervöse, unhaltbare Antworten hervorsprudelten, als könnte die Reaktionszeit mangelndes Verständnis kompensieren.
« Meiner Meinung nach?», fragte Dex.
« Ich rede mit Ihnen, Mr. Thaler. Insofern: Ja, ich frage Sie nach Ihrer Meinung.»
« Dann muss ich sagen, ja, die Klägerin hätte Schadenersatz zugesprochen bekommen müssen. Ich stimme Richter Andrews Minderheitsvotum zu.»
« Ach, wiiirklich?»Zigmans Stimme klang hoch und näselnd.
« Ja. Wirklich.»
Seine Antwort überraschte mich, denn kurz vor dem Seminar hatte er mir erzählt, er habe nicht gewusst, dass es 1928 schon Crack gegeben habe, aber Richter Andrews müsse welches geraucht haben, als er sein Minderheitsvotum verfasste. Aber noch mehr überraschte mich das dreiste«Wirklich», das er an seine Antwort angehängt hatte, als ob er Zigman aufziehen wolle.
Zigmans Hühnerbrust schwoll sichtbar an.«Sie meinen also, der Bahnangestellte hätte vorhersehen müssen, dass ein harmlos aussehendes, gerade fünfzehn Zoll langes Päckchen, in Zeitungspapier gewickelt,
Sprengstoff enthielt und daher der Klägerin Schaden zufügen würde?»
« Die Möglichkeit bestand jedenfalls.»
« Hätte er vorhersehen müssen, dass dieses Paket irgendjemandem auf der Welt Schaden zufügen würde?», fragte Zigman mit wachsendem Sarkasmus.
« Ich habe nichts von ‹irgendjemandem auf der Welt› gesagt. Ich habe von der Klägerin gesprochen. Meiner Meinung nach befand sich Mrs. Palsgraf in der Gefahrenzone. »
Zigman kam stocksteif auf unsere Reihe zu und warf sein Wall Street Journal auf Dex’ geschlossenes Lehrbuch.
« Möchten Sie mir die Zeitung zurückgeben?»
« Lieber nicht», sagte Dex.
Der Schock, der durch den Raum ging, war mit Händen zu greifen. Wir andern hätten einfach mitgespielt, bloße Marionetten in Zigmans Fragespiel, wir hätten die Zeitung zurückgegeben, um passiv die nächste Fallgrube zu umgehen.
« Lieber nicht?»Zigman legte den Kopf schräg.
« Ganz recht. Es könnte Dynamit drin sein.»
Die Hälfte der Studenten schnappte nach Luft, die andere Hälfte kicherte. Offensichtlich hatte Zigman irgendetwas im Ärmel gehabt, irgendeinen Trick, mit dem er die Fakten gegen Dex drehen konnte. Aber Dex fiel nicht darauf herein. Zigman war sichtlich frustriert.
« Nun, angenommen, Sie hätten sich entschließen können, mir die Zeitung zurückzugeben, und sie hätte eine Stange Dynamit enthalten, und sie hätte Ihrer Person Schaden zugefügt. Was dann, Mr. Thaler?»
« Dann würde ich Sie verklagen, und wahrscheinlich würde ich gewinnen.»
« Und stände das Urteil im Einklang mit dem Geist des Mehrheitsvotums von Richter Cardozo?»
« Nein. Das stände es nicht.»
« Ach wirklich? Und warum nicht?»
« Weil ich Sie wegen vorsätzlicher Körperverletzung verklagen würde, während Cardozo von Fahrlässigkeit sprach. Oder nicht?»Dex hob die Stimme, wie Zigman es getan hatte.
Ich glaube, ich hörte auf zu atmen, als Zigman die Handflächen zusammenpresste und sie adrett an die Brust hob, als wolle er beten.«Ich stelle die Fragen in diesem Seminar. Ist Ihnen das recht, Mr. Thaler?»
Dex zuckte die Achseln, als wolle er sagen: Wie Sie wünschen. Mir egal.
« Nun, nehmen wir an, ich habe meine Zeitung versehentlich auf Ihr Pult fallen lassen. Und Sie
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