Fremd fischen
sie über mich hinwegtrampelt.«Das ist sie nicht.»
« Doch, ist sie doch.»
« Nein. Ist sie nicht », sage ich mit größerem Nachdruck. Ich weiß nicht genau, wen ich eigentlich verteidige,
mich oder Darcy. Ja, schön, da war die Sache mit dir. Aber davon weißt du ja nichts.
« O bitte! Erinnerst du dich an Notre Dame? Die Zulassungsprüfung fürs College?»
Ich denke an den Tag, an dem wir alle unsere Prüfungsnoten von der Studienberatung bekamen, in verschlossenen weißen Umschlägen. Alle waren wortkarg, aber jeder brannte darauf zu wissen, wie die andern abgeschnitten hatten. Schließlich sagte Darcy beim Lunch einfach:«Okay, wen kümmert’s? Sagen wir’s uns einfach. Rachel?»
« Wieso muss ich anfangen?», fragte ich. Ich war mit meinem Ergebnis zufrieden, aber ich wollte trotzdem nicht anfangen.
« Sei kein Baby», sagte Darcy.«Verrat’s uns einfach. »
« Na schön. 1300», sagte ich.
« Was war das mündliche Ergebnis?», fragte sie.
Ich sagte es ihr. 680.
« Nett», sagte sie.«Gratuliere.»
Ethan war der Nächste. 1410. Keine Überraschung. Was Annalise hatte, weiß ich nicht mehr – 1100 und ein bisschen.
« Und?»Ich schaute Darcy an.
« Oh. Ja. Ich hab 1305.»
Ich wusste sofort, dass sie keine 1305 hatte. Es gibt nämlich keine Fünferschritte bei der Note. Ethan wusste es auch, denn er trat mich unter dem Tisch und versteckte sein Grinsen hinter seinem Schinkensandwich.
Dass sie log, war mir an sich egal. Sie war bekannt dafür, dass sie alles ein bisschen ausschmückte. Aber dass sie gelogen hatte, um mich um fünf Punkte zu schlagen – das war mir nicht gleichgültig. Wir sprachen sie nicht drauf an – das hatte keinen Sinn.
Aber dann sagte sie:«Tja, vielleicht kommen wir ja beide nach Notre Dame.»
Da war es wieder – ihr Machtspiel, das sie in der fünften Klasse mit Ethan gespielt hatte.
Wie bei vielen Kids im Mittelwesten träumte ich als Heranwachsende vom Notre Dame College. Wir waren keine Iren, nicht mal katholisch, aber seit meine Eltern mich mit acht Jahren zu einem Football-Spiel des Notre-Dame-Teams mitgenommen hatten, wollte ich dorthin. Für mich war es so, wie ein College sein sollte: majestätische Backsteingebäude, manikürte Rasenflächen und jede Menge Tradition. Daran wollte ich gern teilhaben. Darcy hatte nie das leiseste Interesse an Notre Dame geäußert, und deshalb ärgerte es mich, dass sie jetzt in mein Revier eindrang. Aber ich machte mir keine allzu großen Sorgen, dass sie meinen Platz bekommen könnte. Mein Notendurchschnitt war höher, bei der Zulassungsprüfung hatte ich wahrscheinlich auch eine bessere Note als sie, und außerdem kam jährlich nicht nur ein Schüler unserer High School nach Notre Dame.
Langsam trudelten in diesem Frühling die Briefe mit den Zu- und Absagen ein. Jeden Tag schaute ich in den Briefkasten und litt Höllenqualen. Maike O’Sullivan, der drei Generationen von Ehemaligen in der Familie hatte und unser Klassensprecher war, wurde als Erster in Notre Dame aufgenommen. Ich nahm an, dass ich die Nächste sein würde, aber Darcy bekam ihre Zusage vor mir. Ich war bei ihr, als sie den Brief kriegte, aber sie wollte ihn nicht in meinem Beisein öffnen. Ich ging nach Hause und hoffte schuldbewusst, dass sie schlechte Nachrichten bekommen hatte.
Eine Stunde später rief sie mich an. Sie war außer Rand und Band.«Ich kann’s nicht glauben! Ich bin angenommen! Kannst du das glauben?»
Kurz gesagt, nein. Ich brachte einen Glückwunsch zustande, aber ich war am Boden zerstört. Die Neuigkeit konnte nur zweierlei bedeuten: Entweder hatte sie meinen Platz bekommen, oder die ganze High-School-Zeit würde sich wiederholen: Wir würden beide nach Notre Dame gehen, und sie würde mich noch einmal vier Jahre lang überstechen. Ich wusste, dass Darcy mir fehlen würde, wenn ich auf eine andere Schule ginge, aber ich spürte auch sehr deutlich, dass ich meinen Platz ohne sie finden musste. Wenn sie auch da wäre, würde dabei nicht viel herauskommen.
Trotzdem wünschte ich mir diese Zusage mehr, als ich mir jemals irgendetwas gewünscht hatte. Und mein Stolz stand auf dem Spiel. Ich wartete, betete – ich überlegte sogar, ob ich das Zulassungsbüro anrufen und betteln sollte. Eine Woche voller Magenschmerzen verging, und dann kam mein Brief. Er sah genauso aus wie Darcys. Ich rannte ins Haus, und das Herz schlug mir bis zum Hals, als ich den Umschlag aufschlitzte und das Papier auseinander faltete, das mein Schicksal
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