Fremd fischen
zurückzukehren. Bin ich zu fett? Steht mir das hier? Gehst du da mit mir hin? Tu das für mich. Bestätige mich. Mich. Mich. Mich.
Wie aufs Stichwort erzählt sie, dass sie vorhat, ein Tape an Survivor zu schicken – es müsste doch Spaß machen, in die Show zu kommen. Spaß für Exhibitionistinnen, ja. Ich kann mir kaum etwas Schrecklicheres vorstellen als einen Auftritt im landesweiten Fernsehen, wo die ganze Welt dich taxiert, beurteilt, in der Luft zerreißt.
« Glaubst du, sie würden mich nehmen?», fragt sie.
« Du hättest eine gute Chance.»
Hübsch genug ist sie, und sie hat eine lebhafte Persönlichkeit – genau das, was sie im Reality-TV suchen. Ich betrachte mein Gesicht im Spiegel und denke daran, wie Dex mir gesagt hat, dass ich aussehe wie ein J.-R.-Crew-Model. Vielleicht bin ich attraktiv. Aber ich bin nicht annähernd so hübsch wie Darcy mit ihren präzisen Zügen, den unglaublichen Wangenknochen und den geschwungenen Lippen.
Jetzt lacht sie laut ins Telefon und erzählt mir noch eine Geschichte, die sie heute erlebt hat. Es tut mir in den Ohren weh. Das Wort«schneidend»kommt mir in den Sinn. Ich betrachte noch einmal mein Spiegelbild und komme zu dem Schluss, dass ich zwar alles andere als schön bin, aber vielleicht eine Sanftheit habe, die ihr fehlt.
Es ist Donnerstag. Morgen fahren wir wieder in die Hamptons.
Dex ist bei mir. Eigentlich hatten wir vorgehabt, bis nächste Woche zu warten, ehe wir uns wieder allein sehen, aber wir haben heute beide früh Feierabend gemacht. Na ja, und jetzt sind wir eben hier. Einmal haben wir schon miteinander geschlafen. Jetzt liegt mein Kopf auf seiner Brust, und mein Gesicht hebt sich mit seinen Atemzügen. Lange Zeit sagt keiner von uns etwas, und dann fragt er plötzlich:«Was tun wir hier?»
Da ist sie. DIE FRAGE.
Hundertmal habe ich daran gedacht, und ich habe sie genauso formuliert – mit der gleichen Intonation, dem gleichen Nachdruck auf dem Wort tun . Aber jedes Mal habe ich sie anders beantwortet:
Wir folgen unserem Herzen.
Wir riskieren etwas.
Wir sind verrückt.
Wir sind selbstzerstörerisch.
Wir sind lüstern.
Wir sind durcheinander.
Wir sind aufsässig.
Er hat Angst vor der Ehe.
Ich habe Angst vor dem Alleinsein.
Wir verlieben uns.
Wir haben uns schon verliebt.
Und am häufigsten: Keine Ahnung.
Das ist die Antwort, die ich ihm jetzt gebe.«Ich weiß es nicht.»
« Ich auch nicht», sagt er leise.«Sollen wir drüber reden?»
« Möchtest du?»
« Eigentlich nicht.»
Ich bin erleichtert. Ich möchte es nämlich auch nicht. Ich habe zu viel Angst vor der Entscheidung, die wir treffen könnten. Jede Möglichkeit ist Furcht erregend.« Dann nicht. Nicht jetzt.»
« Wann dann?», fragt er.
Aus irgendeinem Grund sage ich:«Nach dem vierten Juli.»
Es klingt willkürlich, aber für mich war es immer eine Art Wendepunkt – die Sommermitte. Nach dem vierten Juli ist zwar noch mehr als die Hälfte des Sommers übrig, aber es ist die schnellere Hälfte, die Hälfte, die immer im Fluge vergeht. Der Juni ist zwar einen Tag kürzer, aber er kommt mir viel länger vor als der August.
« Okay», sagt er.
« Keine Prüfungen vor dem vierten Juli.»Ich konstatiere eine klare Regel, wie ich es vor dem Juraexamen tun würde. Meine Stimme klingt fest, obwohl ich nicht genau weiß, was wir gerade beschlossen haben. Dass am vierten Juli Schluss ist, auf der Seite des Sommers, die dem Hochzeitstermin zugewandt ist? Oder vielleicht … Nein, er kann ja nicht annehmen, dass ich meine, an diesem Tag werde er Darcy eröffnen, dass er sie nicht heiraten kann. Nein, das haben wir nicht entschieden. Wir haben einfach entschieden, nichts zu entscheiden. Das ist alles.
Trotzdem macht es mir Angst, dieses Datum festzusetzen.
Ich sehe einen gigantischen Countdown vor mir: Tage, Stunden, Minuten, Sekunden. Wie die Uhren, die 1999 für den Countdown zum neuen Millennium aufgestellt wurden. Ich erinnere mich, wie ich irgendwann im Dezember in der Post bei der Grand Central Station auf so eine Uhr starrte und den Sekunden beim Verstreichen zusah. Diese Uhr machte mich nervös, hektisch. Ich wollte die Liste meiner Erledigungen in Angriff nehmen, aufgeschobene Telefonate abarbeiten, alles auf der Stelle in Ordnung bringen. Und gleichzeitig lähmte mich der Anblick dieser tickenden Zahlen. Ich hatte viel zu viel zu tun – warum also sollte ich überhaupt etwas tun?
Ich versuche auszurechnen, wie viele Stunden bis zum vierten Juli noch übrig
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