Fremde
Büro war weiträumig, sauber, nicht überfüllt, mit Steinwänden und einer getäfelten Decke. In der Ostwand befand sich ein Fenster, von wo aus man über das Wattenmeer der Alten See blicken konnte; es stand offen, und man konnte die Brandung und das Geschrei der »Seevögel« hören, vom Wind herübergetragen und wieder verebbend, wenn der Wind sich legte. Dieser Wind, der durch das Fenster pfiff mit seiner Fracht, den Meeresgeräuschen, war dünn und kalt und schmeckte nach Salz, das wiederum nach Blut schmeckte. Sonnenlicht drang mit dem Wind herein, auch dünn und kalt, aber rein wie ein lupenreiner Kristall – es spiegelte auf dem prächtigen Wandbehang an der gegenüberliegenden Wand, auf dem sorgfältig Götter und Menschen dargestellt waren, kaltäugige Dämonen und schöne Frauen, Geburten und Kriege, Rettung und Tod.
Farber und Jacawen blickten sich schweigend an.
Jacawen war ein kleiner, nüchterner, selbstsicherer Mann mit jetschwarzem Haar und großen goldenen Augen, wie bei den meisten seiner Rasse. Er war schlank wie ein Otter, vermittelte den Eindruck von Kraft, eines kompakten, festen Muskelsystems. Seine Brüste waren nicht größer als die eines Erdenmannes, da er zur Zeit keine Milch gab, aber sein dünnes Hemd zeigte deutlich die Abdrücke von drei Paar Zitzen, jeweils zu zweien an seinem Brustkorb, und sechs kleine Beulen darunter. Sein Gesicht blickte ruhig, fast ausdruckslos, aber für Farber wegen der winzigen Spitzen der über die Lippen vorstehenden Eckzähne auch irgendwie satanisch. Jacawen war noch intelligenter und härter als sein Sohn, aber bei ihm war der Fanatismus zu einer sicheren, kontrollierbaren, nutzbringenden Kraft gezähmt, eine ständige, rauchlose Flamme. Beide waren Schattenmenschen, eine quasireligiöse Sekte, die in der Regierung Shasines stark vertreten war, aber Jacawen hatte die Reife und Klugheit der Erfahrung – Mordana war noch voller weltlichem Stolz, während Jacawen diesen längst hinter sich gelassen hatte und die sonderbare arrogante Demütigung eines älteren Schattenmenschen zeigte. Er strebte wie die Engel danach, jenseits von Scham und Stolz zu sein. Dabei hatte er unterschiedliche Erfolge.
»Wußten Sie, daß Liraun meine Halbnichte ist?« fragte er abrupt.
O Jesus, dachte Farber.
Nach einem Augenblick gelang es ihm zu sagen: »Nein, das wußte ich nicht.«
»Ich sage Ihnen dies nicht«, meinte Jacawen gleichmütig, »weil es an sich wichtig wäre, sondern als Beweis dafür, daß ich ihre Gedanken kenne, daß ich viel Zeit hatte, sie zu beobachten. Auf Weinunnach herrscht der Brauch, Kinder in bestimmten Wellen zu bekommen, im Abstand von vier Jahren. Liraun wurde in der Brachperiode zwischen zwei Wellen geboren, eineinhalb Jahre nach der letzten Welle und zweieinhalb Jahre vor der nächsten. Es passiert fast nie, daß unsere Frauen empfangen, wenn sie nicht empfangen sollen, aber manchmal geschieht es eben doch, und dies war so ein Fall. Verstehen Sie, Farber? Liraun ist allein aufgewachsen, ohne die passende Altersgruppe, ohne Kameraden. Nicht einmal mit Geschwisterkindern – die Mutter, die erst nach Monaten entdeckte, daß sie empfangen hatte, hatte nicht die Zeit, sich ausreichend um das Wachstum zu kümmern: Die meisten ihrer Kinder wurden tot geboren; eine Schwester starb als kleines Kind. Liraun überlebte, aber sie wuchs traurig und wild heran, und so ist sie immer noch. Sie befand sich auch schon bei anderen Gelegenheiten außerhalb der Harmonie.« Er hielt inne und blickte Farber an. »Verstehen Sie, Farber? Ich rede offen mit Ihnen über Privatangelegenheiten, entgegen dem Brauch unseres Volkes, und es ist mir zuwider – aber ich möchte verstanden werden.«
Farber runzelte die Stirn. »Mir scheint, Sie wollen mir sagen, daß Lirauns … Affäre mit mir … einfach ein neuer wilder Streich ist in einem Leben unglücklicher Rebellionen?«
»Das ist merkwürdig ausgedrückt, stimmt aber grundsätzlich.«
»Und das ist Ihrer Meinung nach alles?«
Jacawen saß einen Moment schweigend da und begann dann erneut.
»Farber, ich glaube, Sie haben mich absolut nicht verstanden«, sagte er trocken. »Ich rede nicht über Ihren Heiratsantrag gegenüber Liraun. Was ich sagen wollte, ist … könnte eine Entschuldigung sein für den Druck und die Disharmonie, die Ihnen diese Sache verursacht haben muß, und eine Versicherung, daß es nicht Ihre Schuld ist. Verbindungen zwischen Terranern und Cian sollten eigentlich grundsätzlich nicht
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