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Fremde

Fremde

Titel: Fremde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gardner R. Dozois
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hielt inne, und seine Miene veränderte sich von Sachlichkeit zu Wut. »Wir, die Schattenmenschen, haben ebenfalls diese Krankheit, aber wir leiden weitaus weniger darunter. Daher können wir mit dir umgehen, daher können wir dich überhaupt verstehen. Wir sind eine Ausnahme, anomal, aber wir haben unsere Aufgabe – die Bürde der irdischen Regierung lastet auf uns. Wir dienen als Puffer für den Rest des Volkes. Wir sind die Barrieren gegen die Vergiftung an Körperlichkeit, die Wesen wie du verbreiten. Das ist unser Stolz und unser Leid – es ehrt uns, daß wir unser Volk so schützen und es ist unsere Schande, daß wir so verseucht sind, daß wir dazu fähig sind.«
    Und so weiter, die ganze Nacht lang.
    Farber verstand es nicht. Jacawan verstand Farber nicht.
    Nach einer Weile hörte Jacawen entgegen aller Tradition auf, sie zu besuchen.
     
    Farber begann, Genawen sur Abut, Jacawens Halbbruder, öfter zu sehen. Wenn er auch zu einer der Tausend Familien gehörte, war Genawen doch kein Schattenmensch – das mußte man werden, man wurde nicht dazu geboren – und schien Jacawens Abneigung gegen Fremde nicht zu teilen. Er war ein kluger, jovialer alter Mann und führte mit gütiger Strenge einen großen Haushalt. Sein Haus war ein weiträumiger Steinbau am Platz der Auferstehung am anderen Ende der Esplanade.
    Genawens Frau wurde zu dieser Zeit ebenfalls Mutter, und dies gab ihm und Farber gemeinsamen Gesprächsstoff, wenn sich auch Genawen die meiste Zeit darüber beklagen wollte, wie sehr seine Frau in der Zeit ihrer Herrschaft das Hauspersonal verdarb. Doch was Genawens Haushalt zur Zeit am meisten durcheinanderbrachte, war etwas, das Farber wie eine Zirkusparade ohne Elefanten erschien und im Innenhof stattfand.
    »Was, zum Teufel, ist das?« fragte er, als Genawen ihn über den Plattenrand des Hofes führte.
    »Das ist die Probe für die Prozession meiner Frau«, antwortete Genawen.
    »Aber was für eine Prozession?«
    Genawen verstummte. Er starrte Farber erstaunt an. »Was für eine Prozession?« murmelte er leer, und dann sagte er: »Was für eine Prozession? Oh, hohoho! Beim Ersten Toten Ahnen – weißt du, daß ich nicht sicher bin, ob ich dir verraten soll, was es ist? Ich habe es noch niemals zuvor erklären müssen. Oh, hohoho!« Genawen lachte bei den Hohohos wie ein Nikolaus, mit perfekter Aussprache und keinem einzigen Extra-Ho – auch keinem fehlenden. Er sah auch wie ein Nikolaus aus, abgesehen von dem fehlenden Bart: buschige Brauen, rosige Wangen, fetter, wabbliger Bauch. Da seine Frau schwanger war, hatte er auch Milch, und seine sechs hängenden Brüste tanzten auf und nieder, wenn er lachte. »Nun, wir wollen sehen, wie ich das erkläre«, begann Genawen ernster. »Du weißt, daß Owlinia, meine Frau, Mutter ist, und ihr Termin steht kurz bevor. Die Geburt kann jeden Tag stattfinden. Nun, diese Leute hier werden sie zum Gebärhaus bringen, wenn es soweit ist – du weißt über die Gebärhäuser Bescheid, oder?«
    »Ja. Liraun hat sie neulich erwähnt.«
    »Nun«, fuhr Genawen fort, »die Prozession geleitet sie zum Gebärhaus wie eine …« Er suchte in seinem kleinen Vokabular nach dem terranischen Ausdruck.
    »… eine Ehrengarde?« schlug Farber vor.
    »Ja«, meinte Genawen, »das ist richtig, wenn man auch bemerken muß, daß zugleich ein ernster religiöser Ritus damit einhergeht. Daher tragen diese Männer Kostüme, andere Talismane oder Götzenbilder, wie deine Leute sagen würden –, aber das entspricht noch immer nicht ganz dieser Sache. Viele repräsentieren die Machtwesen oder symbolisieren die Naturkräfte.«
    »Was stellt dieser hier dar?« fragte Farber und zeigte auf einen Cian, der von Kopf bis Fuß in ein graues Kostüm, an einigen Stellen mit weichen Federn besetzt, gekleidet war – er hatte große Kreise aus roter und schwarzer Farbe um die Augen gemalt und vergoldete falsche Fangzähne, die fast dreißig Zentimeter lang waren.
    »Das ist einer der Feten«, antwortete Genawen, »und es ist unheilverheißend, über ihre Bedeutung zu reden, besonders für Männer in unserer Lage, wo die Mütter fast soweit sind, mit der Prozession zu gehen. Man muß bei solchen Dingen die Form wahren. Daher gehen immer mindestens zwei Zwielichtwesen mit der Prozession, ein Twizan und eine Soúbrae .«
    Wie auf ein Stichwort hin kam in diesem Augenblick eine Soúbrae aus einem der angrenzenden Gebäude in den Hof. Es war die gleiche ausgemergelte, habichtgesichtige Alte Frau, die bei

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