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Fremde

Fremde

Titel: Fremde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gardner R. Dozois
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vierzigmal als Querschläger zwischen den Steinwänden umhergesaust.
    Alle waren davon völlig überrascht – auch Farber, aber er erholte sich als erster. Er machte drei schnelle Schritte vorwärts, schrie und feuerte wieder die Pistole ab, diesmal in die Luft.
    Die Menge wich zurück.
    Farber drängte schnell weiter vor; die Menge teilte sich und wich nach beiden Seiten von ihm fort wie das Rote Meer vor Moses, und da tauchte Jacawen vor Farber auf – wieder so ein Zaubertrick. Und während die Menge an ihm vorbei den Rückzug antrat, blieb er ruhig dort stehen, ein kleiner, düsterer, unbeugsamer Mann, der einzige auf der Straße, der sich nicht in Bewegung befand.
    Jacawen wich nicht zurück.
    Farber blieb stehen. Er hatte bemerkt, daß die anderen Cian ihren Rückzug fortsetzten und Jacawen mit ihm allein ließen, aber das nahm er nur ganz am Rande seines Bewußtseins wahr – seine ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf Jacawen, so sehr, daß er an der Peripherie seines Gesichtsfeldes keine Farben und keine Einzelheiten mehr erkannte.
    »Unsere Wege sind nicht die Ihren, Farber«, sagte Jacawen und benutzte wieder die förmliche Anrede.
    Farbers Finger wurden weiß, als sie sich um den Pistolengriff verkrampften. »Verschwinden Sie von hier«, antwortete er mit so angestrengter Stimme, daß jede Silbe seiner Worte den gleichen flachen, tonlosen Klang hatte.
    Jacawen erwiderte etwas darauf, aber zu schnell und undeutlich, als daß Farber dem Dialekt hätte folgen können – das einzige Anzeichen, das Jacawen von jener emotionalen Anspannung erkennen ließ, unter der auch er stand. Als seine Worte wieder etwas verständlicher wurden, hörte Farber: »… bekannt. Ich warne Sie, wenn sie diese …« (Sünde? Fehler? – zu undeutlich) »… fortsetzen, verdammen Sie sie zu …« (zur Hölle?) – »Sie werden ihre eigene Frau dazu verdammen.«
    »Ihre verdammte Religion ist mir egal!« fuhr Farber ihn an.
    Wieder eine undeutliche Antwort, dann »(?) … Tod. Sie leiden nicht. Im Gebärhaus gibt man ihr eine Droge, die das Bewußtsein ohne Schmerz vergehen läßt.«
    »Ich will auch nicht mit anhören, wie ihr eure verdammten kleinen Morde rationalisiert«, sagte Farber und wunderte sich mit einem unbeteiligten Teil seines Verstandes, daß seine Stimme so klingen konnte, wie sie jetzt klang. »Und jetzt verschwinden Sie hier!«
    »Sie verurteilen Ihre Frau zu Todesqualen!«
    »Ich werde mich schon um ihre Seele kümmern, verdammt!« schrie Farber.
    »Farber …«
    Farber richtete die Pistole auf Jacawens Bauch.
    Stille. Dann sagte Jacawen: »Unsere Wege sind nicht die Ihren, Farber.«
    Farber spannte den Hahn.
    Einen langen Augenblick starrte Jacawen Farber mit einem seltsam vertrauten Gesichtsausdruck an. Dann schüttelte er den Kopf und wandte sich ab. Er ging die Row hinab, nicht sehr eilig, eine steife, kleine Gestalt, die in dem schlitzäugigen roten Splitter zwischen schwarzen Lidern, der vom Sonnenuntergang noch übriggeblieben war, verschwand.
    Farber stand allein auf der Straße.
    Als das Auge am Rande der Welt sich ganz geschlossen hatte und die Nacht herabgesunken war, ging er zurück ins Haus. Drinnen war es dunkel.
    Für einen Augenblick schien es ihm, als könne er Lirauns Atem nicht mehr hören, doch dann vernahm er ihn: sehr langsam und dünn. Er tastete sich zur Heizkugel und schaltete sie ein. Der Raum wurde in goldenes Licht getaucht.
    Liraun saß in ihrem Stuhl, bewegungslos, genauso wie er sie verlassen hatte.
    Farber starrte sie eine Weile an. Sie starrte mit leeren Augen zurück, und als er sich aus ihrem Blickfeld bewegte, folgten ihre Augen ihm nicht. Er gab ein ungeduldiges Räuspern von sich. »Du brauchst jetzt nie wieder Angst zu haben«, sagte er. »Du bist jetzt in Sicherheit – ich habe dich gerettet. Ich habe sie verjagt. Sie werden nicht noch einmal zurückkommen. Du wirst nicht sterben. Verstehst du?«
    Sie antwortete nicht.
    Seufzend setzte er sich. Er lehnte sich vom Stuhl mit dem Rücken gegen die Wand.
    Die Zeit schien stillzustehen. Er verfiel beinahe selbst in einen tranceähnlichen Zustand, nickte ein und fuhr wieder hoch. Das sanfte Summen der Heizkugel, das Schlagen seines eigenen Herzens, Lirauns Herz, ihren langsamen Atem, wanderte mit seiner Aufmerksamkeit von einem Geräusch zum anderen, bis er, auch diesmal erst im Nachhinein, bemerkte, daß er eine sich steigernde Serie kleiner keuchender Seufzer von Liraun vernahm, jeder ein klein wenig gepreßter als der

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