Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
damals, als Jugendliche, mit dem Hepatitis-C-Virus angesteckt hat.«
In dem Moment sah ich ihre zerstochenen Armbeugen.
»Liegt der Zeitpunkt der Infektion so lange zurück wie bei ihr, besteht die Gefahr, dass die Leber durch Vernarbung geschädigt ist, sich also eine Leberzirrhose entwickelt. Unsere Untersuchungen haben diesen Verdacht bestätigt.«
Schrumpfleber. Ich habe immer gedacht, nur Alkoholiker könnten so etwas bekommen.
»Bei einer durch Hepatitis C verursachten Zirrhose besteht zusätzlich ein hohes Risiko, dass der Patient ein Leberzellkarzinom entwickelt.«
»Aber es gibt doch Lebertransplantationen.«
»Ja, nur für eine solche Operation müssen gewisse Voraussetzungen erfüllt sein, was die Laborwerte und das Gesamtbefinden des Patienten betrifft.«
»Und wie sind die Werte meiner Schwester?«
»Nicht sehr gut.«
»Heißt das, dass sie … nicht überleben wird?«
»Wir müssen abwarten, ob sie auf die Medikamente anspricht. Als sie gestern hier eingeliefert wurde, sah es sehr schlecht für sie aus, aber akute Lebensgefahr besteht jetzt nicht mehr.«
Wie ungläubig die Eltern mich anblickten, an jenem Abend, als ich ihnen von Lydias Zusammenbruch im Badezimmer erzählte. Sie raucht nicht mehr nur Haschisch, sondern hängt jetzt auch an der Spritze. Lydia doch nicht, erwiderte Mutter. Und wie erklärst du dir ihre zerstochenen Armbeugen?, schrie ich. Du willst einfach nicht wahrhaben, dass deine ach so begabte Tochter auf dem absteigenden Ast ist.
»Wenn sich als Folge der Leberzirrhose bereits Krampfadern in der Speiseröhre gebildet haben und die Adern platzen, enden diese Blutungen nicht selten tödlich.«
Sprichst du von Heroin?, fragte Vater. Du hast es erfasst. Was ist das für ein Ton?, rief er, während Mutter murmelte, für sie sei das alles zu viel. Noch am selben Abend bestand er darauf, sich Lydias Armbeugen anzusehen. Und dann war die Aufregung natürlich groß.
»Ihre Schwester hat gestern mit Sicherheit nicht zum ersten Mal Blut gespuckt. Ich denke, sie hat es überhaupt nur unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte geschafft, nach Deutschland zurückzukehren.«
»Meine Eltern und ich haben alles versucht, um Lydia von den Drogen abzubringen. Sie war bei Beratungsstellen, in Therapiezentren, in verschiedenen Kliniken. Wir haben immer gehofft, dass sie diesmal durchhalten und nicht, wie beim letzten Mal, die Therapie wieder abbrechen würde.«
»Irgendwann muss sie es geschafft haben, denn sie leidet nicht unter Entzug. Nach der Beschaffenheit ihrer Venen zu urteilen, hat sie sich auch schon sehr lange nichts mehr gespritzt.«
»Das mag sein. Ich habe meine Schwester in den letzten Jahren so selten gesehen, dass ich das nicht beurteilen kann.«
»Ihre Schwangerschaft könnte sie motiviert haben, sich mit ihrer Drogenabhängigkeit auseinanderzusetzen und davon loszukommen.«
»Sie war sehr enthusiastisch, als sie mir erzählt hat, dass sie schwanger ist.«
»Wissen Sie, wer der Vater ist?«
»Nein.«
»Es wäre wichtig, das herauszufinden, damit das Kind in Zukunft versorgt ist. Für den Fall, dass Ihre Schwester stirbt.«
Ich schlucke. »Es kann sein, dass sie es selbst nicht weiß.«
»Vielleicht wird sie Ihnen aufgrund ihrer schweren Erkrankung die Namen derjenigen nennen, die für eine Vaterschaft in Frage kommen. Und dann lassen sich Tests durchführen. Irgendjemand muss die Verantwortung für das Kind übernehmen.«
»Wie ich meine Schwester kenne, wird sie mir nichts sagen. Sie hasst mich. Schon seit vielen Jahren.«
»Menschen in der Situation Ihrer Schwester reagieren manchmal anders, als man es erwarten würde. Eine Mutter wird vor allem für ihr Kind sorgen wollen. Falls sich tatsächlich nicht feststellen lässt, wer der Vater ist, wird sich Ihre Schwester vermutlich an Sie wenden. Sie sind immerhin die nächste Anverwandte.«
»Und … wenn ich das nicht kann und ihr die Bitte abschlagen muss?«
»Denken Sie in Ruhe darüber nach.«
»Darüber muss ich nicht nachdenken.«
Ich will aufstehen, weil ich das Gespräch für beendet halte, als die Ärztin mich darauf hinweist, dass auch Merle getestet werden müsse. Um sicherzugehen, dass das Hepatitis-C-Virus nicht von der Mutter auf sie übertragen worden sei.
»Wie hoch ist die Gefahr?«
»Nicht sehr hoch.«
Wie in Trance verlasse ich das Arztzimmer.
Zwei Türen weiter ist die Toilette. Ich schließe ab. Ich hätte Merle nicht mit zu mir nach Hause nehmen dürfen. Hätte alles anders machen
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