Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
gehe ins Badezimmer. Drehe den Wasserhahn auf, damit Merle mein Weinen nicht hört. Was ist los mit diesem Kind? Ich habe ihr nichts getan. Im Gegenteil.
Ich gehe ins Wohnzimmer zurück. Merle sitzt an derselben Stelle und schaut auf ihre Hände.
»Willst du fernsehen?«, frage ich erschöpft.
Sie nickt.
Ich schalte den Fernseher ein und gehe verschiedene Programme durch. Eine Spielshow, Fußball, ein Reisebericht, Nachrichten, eine alte Komödie, ein Zeichentrickfilm. Ann-Kristin liebt diese Filme.
»Keine Ahnung, ob dir das gefällt«, sage ich und gebe Merle die Fernbedienung in die Hand. »Sonst suchst du dir was anderes aus. Drückst einfach auf diese Knöpfe hier. Ich bin im Schlafzimmer.«
Ob Merle jemals ferngesehen hat, abgesehen von gestern Abend? Lydia fände das bestimmt nicht gut. Aber darauf kann ich keine Rücksicht nehmen.
Ich lege mich aufs Bett. Sonst würde ich jetzt arbeiten, laufen, mit Jan spazieren gehen. Ich habe noch nie an einem Samstagnachmittag auf meinem Bett gelegen. Die Sonne scheint. Nach dem Regen vorgestern Nacht ist es wieder warm geworden.
Kurz nach fünf. Ich könnte Jan anrufen. Ihn bitten, eher zu kommen.
Nein. Wenn er Merle und mich in dieser Stimmung sieht. Vielleicht gibt es in den nächsten Stunden einen Durchbruch. Oder auch nicht. Wenn sie heute Abend mit Jan spricht, aber nicht mit mir. Was mache ich dann?
Esther ist in ihrem Haus am Plöner See. Ich wähle ihre Nummer. Es nimmt niemand ab. Ihr Handy ist ausgeschaltet. Vermutlich sitzt sie mit Mann und Kind bei Pflaumenkuchen im Garten. Oder radelt mit ihrer Familie am See entlang.
Ich mache die Augen zu. Sehe Esther und Ann-Kristin vor mir. Sie lachen zusammen. Erzählen sich was. Esther hört ihrer Tochter so aufmerksam zu, als gäbe es nichts anderes auf der Welt.
Plötzlich spüre ich wieder meinen Ärger. Ihr seid euch ähnlicher, als du glaubst. Sie hat kein Recht, über mein Leben zu urteilen. Dieselben Sehnsüchte. Lydia wollte Künstlerin werden. Ich wollte meine Ruhe haben. Wollte nicht mehr verantwortlich sein für meine kaputte Schwester. Aus meinem Leben hätte ich sie herausgeschnitten, sagt Esther. Ich musste meine Haut retten.
Ich wache auf. Mir ist heiß. Was macht Merle jetzt?
Ich springe auf. Laufe ins Wohnzimmer.
Merle blickt mich erstaunt an. Sie sitzt an derselben Stelle wie vorhin. Im Fernsehen läuft ein Film über Elefanten.
Der Computer sieht unberührt aus. Ich schalte ihn ein.
Meine Dateien sind alle noch da.
Im Schlafzimmer gibt es keinen Internetanschluss. Ich werde Merle samt Fernseher umquartieren. Ich brauche meinen Schreibtisch. Ausgeklappt reicht das Sofa für zwei. Die Floh- und Läusegefahr ist mir egal. Bisher hat Merle sich nicht gekratzt.
»Ich habe mir was überlegt«, sage ich.
Sie stellt die Lautstärke höher.
»Moment! So läuft das hier nicht!« Ich nehme ihr die Fernbedienung weg. »Du kannst gleich weiter fernsehen, aber erst hörst du mir zu.«
Merle rennt ins Badezimmer und schließt die Tür hinter sich ab.
Wenn sie jetzt wieder das Bad unter Wasser setzt, wird sie mich von einer anderen Seite kennenlernen. Solange sie in meiner Wohnung lebt, gibt es Regeln.
Ich lausche an der Badezimmertür. Höre kein Wasserrauschen. Nichts.
Vielleicht steht Merle auf der anderen Seite der Tür und wartet darauf, dass ich die Fassung verliere. Den Gefallen werde ich ihr nicht tun.
Es fällt mir nicht leicht, mein Schlafzimmer für sie zu räumen. Ich schaffe Platz in meinem Kleiderschrank. Packe die Tüten aus. Stöpsele den Fernseher um. Lege ihr Ann-Kristins Bilderbuch auf den Nachttisch.
»Du kannst dir die Elefantensendung jetzt im Schlafzimmer ansehen«, rufe ich durch die Tür.
Keine Antwort. Keine Geräusche.
Das Telefon klingelt. Das wird das Krankenhaus sein.
Es ist Esther. Ich sinke auf mein Sofa. Wünsche, es hätte zwischen uns nicht diese Missstimmung gegeben.
»Bist du noch da?«
»Ja …«
»Wie lautet die Diagnose?«
»Warte.«
Ich schließe die Tür. Berichte ihr, was die Ärztin gesagt hat.
»Das klingt schlimm.«
»Ich habe versucht, mit Lydia zu reden. Aber es hat keinen Zweck. Ihr scheint nicht klar zu sein, wie es um sie steht. Sie hat mir zweimal versichert, dass sie Merle holen wird, sobald sie wieder zu Kräften gekommen ist. Sie ist Lichtjahre davon entfernt.«
»Vielleicht ist es der Schock. Und sie begreift deshalb nicht, wie krank sie ist.«
»Sie hat sich ihr Leben lang selbst belogen. Auch wenn sie im Sterben liegt,
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