Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
Schlappen, kleinen Stiefeln. Merles Augen wandern hin und her.
»Welche gefallen dir?«
Sie rührt sich nicht.
Eine Verkäuferin kommt und fragt nach unseren Wünschen. Merle geht langsam an den Ständern entlang, berührt eine Sandale, einen Lackschuh. Kehrt an den ersten Ständer zurück, zeigt auf einen weißen Turnschuh mit hellblauen Streifen.
Nimm lieber Sandalen, will ich ihr raten. Es ist noch so warm. Ich sage nichts.
Die Verkäuferin bittet Merle, sich hinzusetzen.
Sie zieht ihr die Sandalen aus.
»Die sind viel zu klein. Ihre Tochter hat schon Druckstellen an den Füßen.«
»Das ist nicht meine Mutter«, sagt Merle schnell.
»Größe 35 müsste passen«, murmelt die Verkäuferin. »Läufst du viel barfuß?«
Merle nickt.
»Ich habe bei einem Kind noch nie eine so dicke Hornhaut gesehen.«
Nur keine Diskussion über Merles Lebensgewohnheiten.
Die Verkäuferin verschwindet im Lagerraum.
Wieso bin ich nicht selbst darauf gekommen? Merle ist die meiste Zeit ihres Lebens barfuß gelaufen. Weder Lydia noch sie hatten gestern Morgen Schuhe an.
Vorsichtig streicht sie über ihre Fußsohlen. Dicke, gelbbraune Haut. Sie wird sich eingezwängt fühlen in den Schuhen. Auch wenn sie die richtige Größe haben.
»Zu Hause kannst du natürlich weiterhin barfuß laufen«, sage ich und setze mich neben Merle.
Sie rückt ein Stück von mir ab.
Zu Hause. Meine Wohnung ist nicht ihr Zuhause. Es hat Vorteile, nicht miteinander zu reden.
Die Verkäuferin bringt drei Schuhkartons und Söckchen in verschiedenen Farben.
Merle entscheidet sich schnell. Das erste Paar passt. Dazu weiße Söckchen.
»Davon nehmen wir fünf Paar«, sage ich und bücke mich, um die Sandalen aufzuheben.
»Was wollen Sie noch damit?«, fragt die Verkäuferin. »Die sind doch zu klein.«
»Wir haben sie geliehen«, antwortet Merle.
Merle läuft, als hätte sie ihr Leben lang Turnschuhe getragen.
Gleich ins nächste Geschäft. Ich kann Merle am Montag nicht in Ann-Kristins Anziehsachen dem Sozialdienst übergeben. Vielleicht erstattet mir das Sozialamt einen Teil der Kosten. Bis vier haben die Läden geöffnet. Jetzt ist es halb eins.
»Hast du Hunger?«
Keine Antwort.
»Ist das Grummeln im Bauch weg?«
Leichtes Kopfschütteln.
Mein Handy klingelt. Es ist Jan.
»Wie sieht’s aus?«
»Wir haben Schuhe für Merle gekauft.«
»Wart ihr schon im Krankenhaus?«
»Ja.«
»Und?«
»Erzähl ich dir später.«
Merle hört aufmerksam zu.
»Ich könnte gleich bei euch vorbeikommen.«
»Da sind wir noch nicht zurück. Merle braucht was zum Anziehen. Komm heute Abend.«
Wir kaufen Kleidung für knapp dreihundertfünfzig Euro. Eine Grundausstattung. Die Turnschuhe haben sechzig Euro gekostet. Ich wusste nicht, wie teuer Kinderkleidung ist. Es fällt mir schwer, so viel Geld für jemanden auszugeben, der nicht mit mir spricht.
Beladen mit unseren Tüten kehren wir zu meinem Wagen zurück. Ich habe einen Strafzettel bekommen. Das ist mir seit Jahren nicht mehr passiert.
Zu Hause essen wir Pizza. Das Radio läuft.
»Willst du deine neuen Sachen anprobieren? Du kannst in mein Schlafzimmer gehen. Da ist ein großer Spiegel.«
Keine Antwort.
»Oder willst du malen? Ich habe Papier und Buntstifte.«
Keine Antwort.
»Du kannst dir auch Ann-Kristins Bilderbuch anschauen.«
Sie schaut auf ihre Hände.
»Merle, wir müssen versuchen, es miteinander auszuhalten.«
Ihr Mund wird zu einer schmalen Linie.
»Du hast Angst um deine Mutter. Und du bist nicht gern hier bei mir, weil du sie vermisst und weil du bisher ganz anders gelebt hast. Du weißt, dass deine Mutter und ich uns nicht gut verstehen. Deshalb sprichst du nicht mit mir. Das ist schwierig für mich. Aber vielleicht können wir etwas zusammen unternehmen?«
Merle kräuselt die Stirn.
»Für mich ist seit gestern Morgen auch viel passiert. Ich lebe sonst allein, schreibe Geschichten fürs Fernsehen und verbringe Zeit mit meinem Freund. Das ist Jan. Du hast ihn kennengelernt. Ich bin noch nie für ein Kind verantwortlich gewesen. Vielleicht mache ich alles falsch. Aber wenn du mir nicht sagst, was dir weh tut, was du gern isst, womit du gern spielst, kann ich es nicht besser machen. Du musst mich nicht mögen. Hauptsache, du sagst irgendwas, damit ich dich kennenlerne. Vielleicht denkst du, ich mag dich nicht, weil deine Mutter und ich uns nicht mögen. Aber das stimmt nicht. Und mit deiner Mutter war es früher auch anders …«
Meine Kehle schnürt sich zu.
Ich
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