Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
hindurch.
»Mach wenigstens einmal den Mund auf!«, schreie ich.
Für ein paar Sekunden verziehen sich Merles Mundwinkel zu einem Grinsen. So ein Biest. Von dir lasse ich mich nicht unterkriegen.
Wir brauchen zehn Minuten bis zum Krankenhaus. Merle läuft langsam. Vielleicht sind die Sandalen zu klein. Ich frage sie nicht.
Am Informationsschalter nenne ich meinen Namen, sage, dass wir Lydia Daniels besuchen wollen. Ein leichtes Stirnrunzeln bei der Sachbearbeiterin. Ist Lydia nicht mehr am Leben? Mir wird heiß.
»Haus 050, achter Stock.«
»Was ist das für eine Station?«
»Hepatobiliäre Chirurgie.«
Sie sieht meinen fragenden Blick.
»Da liegen die Leberkranken.«
Hepatitis. Wenn Lydia Hepatitis hat, können wir uns auf einiges gefasst machen.
Die Sachbearbeiterin reicht mir einen Plan. Das Haus 050 ist rot umrandet. Eine rote Linie zeigt den Weg dorthin.
»Melden Sie sich im Stationszimmer.«
»Haben Besucher dort ohne weiteres Zutritt? Hepatitis ist doch ansteckend.«
»Dazu kann ich Ihnen nichts sagen.«
Ich versuche, mich auf dem Plan zu orientieren. Merle tritt von einem Fuß auf den anderen. Zupft mich am Ärmel. Bald wird sie mit mir reden.
Wir gehen durch die Ladenpassage. Die vielen Menschen. Ich will nach Merles Hand greifen. Da ist keine Hand. Ich wende mich zu ihr um. Sie hat die Arme hinter ihrem Rücken verschränkt.
Der zentrale Aufnahmedienst. Dort ist Lydia gestern eingeliefert worden. Erkennt Merle das Gebäude wieder? Sie blickt auf ihre Füße.
Wir erreichen das Haus 050. Merle rennt auf die Eingangstür zu und ist im Nu verschwunden. Ich renne hinter ihr her. Finde sie vor den Fahrstühlen. Zum Glück sind alle besetzt. Sonst wäre sie jetzt auf dem Weg in den achten Stock.
»Merle, wenn wir deine Mutter besuchen wollen, musst du bei mir bleiben.«
Sie tritt gegen die Wand.
»Hast du mich verstanden?«
Gleich tritt sie mich.
Plötzlich beginnt sie zu weinen. Ein lautes Schluchzen. Ich streiche ihr vorsichtig über den Kopf. Sie stößt meine Hand weg.
Im Fahrstuhl stellt sie sich ans andere Ende und schlägt die Hände vors Gesicht. Eine ältere Dame sieht sie mitleidig an.
»Was hat sie denn, die Kleine?«
Ich zucke die Schultern.
Besuche mit Kindern unter 14 nur nach Rücksprache mit dem Stationsarzt steht auf dem Schild gegenüber der Fahrstuhltür. Und daneben: Bitte keine Topfpflanzen. Gleich breche ich auch in Tränen aus.
Die Krankenschwester im Stationszimmer erfasst die Situation sofort. »Du willst bestimmt deine Mama sehen.« Sie lächelt.
Merle nickt. Lässt sich von ihr an die Hand nehmen und auf den Flur führen.
»Ist das nicht gefährlich?«, rufe ich hinter den beiden her.
Die Krankenschwester dreht sich um und schüttelt den Kopf.
Wenige Minuten später sitze ich bei der Ärztin im Zimmer.
»Ihre Schwester leidet an einer chronischen Hepatitis C. Der Zeitpunkt der Infektion liegt also schon sehr lange zurück.«
Ich sehe Lydia genau vor mir. Ein Sommertag vor mehr als zwanzig Jahren.
»Das Tückische an der chronischen Hepatitis C besteht darin, dass sie sich schleichend über viele Jahre mit milder Symptomatik entwickelt.«
Sie lag auf den grünen Fliesen im Badezimmer. Hatte sich übergeben.
»Die Patienten klagen vielleicht über Müdigkeit, unspezifische Oberbauchbeschwerden und verminderte Leistungsfähigkeit, suchen aber häufig keinen Arzt auf.«
Kurz zuvor hatte sie begonnen, immer die Tür hinter sich abzuschließen. An jenem Tag war sie nur angelehnt.
»Im Gegensatz zu Hepatitis-A-Patienten bekommen sie auch nicht unbedingt eine Gelbsucht, die ja immer ein Warnsignal ist.«
Ich hörte ein lautes Stöhnen. Lief zu ihr, wollte ihr helfen. Lass mich in Ruhe, fuhr sie mich an.
»So wenden sie sich oft erst nach einem Zusammenbruch oder einer Blutung aus der Speiseröhre an einen Arzt. Dann ist die Krankheit bereits sehr weit fortgeschritten.«
Mich überfällt ein Schwindel.
»Hat Ihre Schwester jemals Drogen genommen?«
»Ja.«
»Wann hat sie damit angefangen?«
»Schon sehr früh, mit dreizehn oder vierzehn …«
»Hat sie Heroin gespritzt?«
»Auch.«
»Bei Hepatitis C erfolgt die Ansteckung sehr häufig über das Blut, also zum Beispiel durch das sogenannte ›needle-sharing‹, den gemeinsamen Gebrauch von Spritzen unter intravenös Drogenabhängigen.«
Sie konnte sich nicht allein aufrichten. Ich griff ihr unter die Achselhöhlen.
»Es ist denkbar und sogar sehr wahrscheinlich, dass Ihre Schwester sich bereits
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