Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
werden. Mutter beendete jede Diskussion mit den Worten: Wenn ihr erwachsen seid, werdet ihr mir noch dankbar sein. Welche junge Frau plagt sich schon gern mit Blasenentzündungen?
Ich merke, dass ich auch hungrig bin. Gleichzeitig ekelt mich die Vorstellung, mit Lydia und Merle an einem Tisch zu sitzen. Ich werde später, wenn die beiden weg sind, in Ruhe mit Jan frühstücken.
Soweit ich mich erinnern kann, habe ich niemals an einer Blasenentzündung gelitten, obwohl ich unzählige Male auf der Schultoilette die Strumpfhosen gegen Kniestrümpfe eingetauscht habe. Lydia jedoch ließ, mit oder ohne Strumpfhosen, keine Krankheit aus, weshalb Mutters Vorsicht eigentlich ihr und nicht mir galt. Ich nahm es Mutter übel, dass sie für Lydia und mich dieselben Verbote verhängte, aber noch mehr nahm ich es Lydia übel, dass sie so kränklich war und sich deshalb immer alles um sie drehte.
»Wohnt der Typ hier, mit dem du vorhin gesprochen hast?«, fragt Lydia plötzlich in die Stille hinein.
»Wieso?«
»Ist dir die Frage zu indiskret?«
»Es geht dich nichts an, wie ich lebe.«
»Vielleicht doch. Merle und ich stellen uns vor, ein paar Wochen bei dir zu wohnen.«
Wie bitte? Mir bricht der Schweiß aus.
»Merle ist gerade sieben geworden. Es wird Zeit, dass sie in die Schule kommt.«
»Da hast du allerdings recht. Miete dir eine Wohnung und melde Merle in einer Grundschule an.«
»Wir haben kein Geld, um eine Wohnung zu mieten«, sagt Merle und zieht weiter ihre Fingerkreise.
»Wenn deine Mutter ihr Erbe nicht in Südafrika, Indien und sonst wo auf den Kopf gehauen hätte, wäre sie jetzt in der Lage, für euch eine Wohnung zu mieten.«
»Auf deine Moralpredigt kann ich verzichten«, sagt Lydia und steht auf.
»Wie wär’s, wenn du dir zur Abwechslung mal einen Job suchen würdest?«
»Mama kann nicht arbeiten!«, ruft Merle. »Mama ist krank!«
»Krank? Wie praktisch. Vor allem, wenn man eine Schwester hat, die Geld verdient und bei der man einfach so auftauchen kann und hoffen, dass sie einen durchfüttern wird.«
»Komm, wir gehen«, sagt Lydia und greift nach Merles Hand.
»Wohin?«
»Das werden wir schon sehen. Hier sind wir nicht willkommen.«
Merle wirft mir einen wütenden Blick zu. »Wenn Mama stirbt, bist du schuld.«
Ich schlage vor, zum Sozialamt zu fahren, um herauszufinden, was es für Unterkünfte gibt. Irgendwo würden sie sicher was finden.
Lydia schweigt und öffnet die Tür. Dann dreht sie sich noch einmal zu mir um. »Ich würde an deiner Stelle mal darüber nachdenken, warum du so zynisch, so verbittert geworden bist. Ein Mensch wie du kann nicht glücklich sein. Auch wenn du dich hier mit noch so viel Komfort umgeben hast.«
Ich will die Tür hinter ihnen schließen, als Lydias Beine plötzlich nachgeben und sie in sich zusammensackt.
»Mama!« Merle wirft sich über ihre Mutter und rüttelt an ihrer Schulter. »Mama, steh auf!«
Im ersten Moment denke ich, dass Lydia nur simuliert, so wie früher, wenn sie eine Ohnmacht vortäuschte, um nicht in die Schule zu müssen. Dann sehe ich Blut zwischen ihren Lippen. Und Merle sieht es auch.
2.
I ch steuere auf eine Bank zu. Merle folgt nur zögernd.
Ein Notarztwagen fährt zur Einfahrt des zentralen Aufnahmedienstes, wo auch der Wagen mit Lydia gehalten hat.
Lydia am Tropf, Mund und Kinn voller Blut, die Augen geschlossen.
»Komm, Merle.« Ich klopfe auf den Platz neben mir.
Sie ist unter einem Baum stehen geblieben und schaut auf ihre Füße. Ich rufe noch einmal ihren Namen. Sie rührt sich nicht.
Nehmen Sie Ihre Nichte mit raus, hier kann sie nicht bleiben. Nichte. Meine. Ich habe Merle zuletzt gesehen, als sie zwei Jahre alt war. Für eine halbe Stunde.
Jan will uns etwas zu trinken holen. »Magst du Orangensaft?«, fragt er Merle.
Sie reagiert nicht. Jan verschwindet in Richtung Cafeteria.
Tuberkulose, Hepatitis, Aids. Keine Ahnung. Auch die Ärzte haben keine Ahnung. Ich halte alles für möglich. Wie hat sie sich das Geld für die Rückflüge nach Hamburg besorgt? Ob sie in Nepal jemanden angebettelt hat, einen deutschen Geschäftsmann in einem der größeren Hotels in Kathmandu oder einen Trekking-Touristen auf dem Weg zum Himalaja? Lydia hat immer gewusst, wie man die Menschen ausnimmt. Es wäre ihr zuzutrauen, dass sie ihre Schwester in Hamburg als Bürgin genannt hat und demnächst jemand mit einer größeren Geldforderung vor mir steht.
Ich mache ein paar Schritte auf Merle zu. Sie weicht sofort
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