Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
Mund, dann schließt sie ihn wieder, ohne etwas gesagt zu haben.
Ich hole ihr ein frisches Handtuch aus meinem Wäscheschrank. Wische die letzten Pfützen auf. Dabei kehre ich ihr den Rücken zu. Mein Blick fällt auch nicht in den Spiegel. Aber nein, Merle läuft in die Küche, um dort die Handtücher zu wechseln. Wieso hat sie in der nepalesischen Wildnis kein zwangloseres Verhältnis zu ihrem Körper entwickelt? Lydia bestand noch als Dreizehnjährige darauf, splitterfasernackt durch unsere Wohnung zu laufen, so dass es Mutter hochnotpeinlich war. Lydia, was soll dein Vater dazu sagen? Frag ihn doch, lautete ihre Antwort. Dabei grinste sie. Sie wusste genau, dass Mutter ihn niemals so etwas fragen würde.
Merle steht im Flur und sieht mich mit großen Augen an.
»Möchtest du dir die Haare föhnen?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Hast du Hunger?«
Sie nickt.
»Was hältst du von Spaghetti mit Tomatensauce?«
Sie zuckt mit den Achseln. Vielleicht kennt sie keine Spaghetti.
»Die werden dir schmecken«, sage ich und hoffe nur, dass jetzt kein Essensdrama folgt, wie Esther es eine Zeitlang mit Ann-Kristin erlebt hat. Meine Toleranz für Dramen ist erschöpft.
Ich gehe in die Küche und setze Nudelwasser auf. Beim Tischdecken sieht Merle mir zu. Nach einer Weile setzt sie sich auf einen Stuhl und streicht vorsichtig über die grünen Stoffservietten. Als sie bemerkt, dass ich sie beobachte, schaut sie gelangweilt aus dem Fenster.
Unsere Mahlzeit verläuft schweigend. Merle isst zwei Teller Nudeln mit Sauce und probiert sogar den Parmesankäse. Das Handtuch rutscht und muss immer neu befestigt werden. Ich helfe ihr nicht. Biete ihr auch meinen Bademantel nicht noch mal an. Zum Nachtisch essen wir Quarkspeise mit Blaubeeren. Wieder nimmt sie zweimal. Wir trinken Mineralwasser. Nach Cola verlangt sie nicht. Wer weiß, ob sie Cola kennt. Ich hätte sowieso keine im Haus. Ihre grüne Serviette rührt sie nicht an.
»Bist du müde?«
Sie reagiert nicht. Ich baue ihr auf meinem Sofa ein Bett.
Zehn Minuten später liegt sie zusammengerollt an einem Ende. Die Augen geschlossen. Aus ihrem leicht geöffneten Mund kommen ruhige, gleichmäßige Atemzüge. Ich breite die Steppdecke über ihr aus. Wickele sie nicht darin ein. Sobald ich sie berühre, wird sie aufwachen. Da bin ich sicher. Auch wenn sie noch so tief schläft.
Ihre Lider zucken ein paarmal. Aus ihrer Kehle kommt plötzlich ein seltsamer Laut. Sie träumt. Von ihrer Hütte in Indien. Vom Zusammenbruch ihrer Mutter. Ich weiß nichts von diesem Kind, das mich nicht mag und dennoch auf meinem Sofa eingeschlafen ist. Das nur hier ist, weil es keine andere Wahl hat.
4.
M erle schläft. Ich sitze vor meinem Exposé. Ein Krimi über Babyhandel. Das Thema beschäftigt mich seit langem. Aber heute kann ich mich nicht konzentrieren.
Ich schaue zu Merle hinüber. Ist sie zugedeckt? Atmet sie ruhig? Ist ihr Gesicht entspannt? Vorhin sah sie aus, als hätte sie Schmerzen.
Rumänische Babys, die an kinderlose deutsche Paare verkauft werden. Paare, die jahrelang auf Adoptionslisten gestanden haben und deren Hoffnung gleich null ist, jemals auf legale Weise ein Kind adoptieren zu können. Paare, die sich so sehr nach einem Kind sehnen, dass sie bereit sind, viel Geld für ein Baby aus Rumänien zu bezahlen, Hauptsache, der Handel bleibt geheim.
Ich habe wie immer viel recherchiert und glaubte, eine stimmige Geschichte entwickelt zu haben. Die Redakteurin ist anderer Meinung. Ihre Kritikpunkte leuchten mir nicht ein.
Bis gestern fiel es mir nicht schwer, über den Stoff nachzudenken. Jetzt schläft Merle auf meinem Sofa.
Ich bin es nicht gewohnt, mit unvorhergesehenen Ereignissen fertig zu werden. In meinem Leben hat es immer eine klare Struktur gegeben. Wenn ich morgens aufstehe, weiß ich, was ich zu tun habe. Am Abend vorher mache ich mir eine Liste. Arbeite sie Punkt für Punkt ab. So komme ich voran. Jan sagt, ich sei zu rigide. Es täte mir gut, mich ab und zu treiben zu lassen. In den Ferien zwinge ich mich dazu. Sehne mich aber schnell nach meinem Alltag zurück. Jan und sein Chaos. Wir könnten niemals zusammenziehen. Sosehr er sich das auch wünscht. Ich weiß, wo ich was finde, sagt er und setzt sich ans Klavier. Ein Künstler. Er sagt, es sei ein Klischee, Unordnung mit Künstlertum zu verbinden. In seinen Augen bin ich mit meinen Ordnungssystemen auch eine Künstlerin. Kunst hin oder her, ich liebe nichts mehr, als Figuren zu erschaffen, ihre Beziehungen
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