Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
ich mich beraten lassen, was siebenjährige Mädchen tragen. Oder auch sechsjährige. So klein und dünn wie Merle ist.
Draußen im Flur lausche ich, ob ich ein Wasserplätschern höre oder ein anderes Geräusch, aber es ist still dort drinnen. Eine unheimliche Stille. Ich werde mich beherrschen und nicht die Tür öffnen. Auf den Balkon gehen. Tief durchatmen. In meinem Kopf breitet sich ein dumpfer Schmerz aus. Als hätte ich Fieber.
Ich nehme ein Aspirin. Bereue es plötzlich, dass ich nicht auf Jans Angebot eingegangen bin. Er wollte mitkommen. Aber ich wollte mir keine Blöße geben.
Auf dem Weg zum Balkon fällt mein Blick auf den Schreibtisch. Ich habe der Redaktion für Montag die überarbeitete Fassung des Exposés zugesagt. Das schaffe ich nicht. Wer weiß, wann ich wieder zum Arbeiten komme. Heute Nachmittag wollte ich laufen. Heute Abend wollten wir ins Konzert. Ich kann Merle nicht allein in der Wohnung lassen. Auch nicht, wenn ich Kleidung für sie kaufe. Muss sie mitnehmen. Wenn sie das Wasser überlaufen lässt. Die Herdplatten anstellt. An meinem Computer herumspielt.
Haben Sie Geschwister? Die Frage eines Kollegen neulich bei einem Abendessen.
Ich hatte mal eine Schwester. Er sah mich an und nickte. Glaubte, sie sei tot, und mein Schmerz zu groß, um über sie zu sprechen.
Ich wähle Esthers Nummer.
Fünf Jahre habe ich meine Ruhe gehabt. Seit Lydia kurz nach Mutters Tod mit Merle nach Südafrika aufgebrochen ist. Anfangs habe ich täglich gebetet, dass sie nie mehr zurückkehren möge. Später noch mindestens einmal in der Woche.
»Fischer.«
Esther ist eine gute Zuhörerin. Als ich fertig bin mit meinem Bericht, verkündet sie, pragmatisch wie sie ist, dass sie nach ihrer Redaktionskonferenz etwas Kleidung vorbeibringen werde. Ann-Kristin ist erst fünf, aber groß für ihr Alter. Ich bin erleichtert, weil Merle etwas zum Anziehen bekommt, ohne dass ich die Wohnung verlassen muss.
»Es war ein Fehler, dass ich sie mit zu mir genommen habe.«
»Tut dir bestimmt gut. Immer nur zu Hause sitzen und Drehbücher schreiben …«
»Ich liebe meine Arbeit! Das weißt du doch!«
»Natürlich. Sonst wärst du auch nicht so erfolgreich. Ich kenne niemanden, der sich mit dieser Leidenschaft Geschichten ausdenkt wie du. Trotzdem …«
»Außerdem laufe ich mindestens dreimal in der Woche«, unterbreche ich sie. »Im Gegensatz zu dir.«
»Du isolierst dich zu sehr. Das hab ich dir schon oft gesagt. Nicht mal Jan lässt du ganz in dein Leben.«
»Was soll das heißen?«
»Es schadet nichts, wenn du dich mit zweiundvierzig auch mal um jemanden kümmerst.«
»Ich war mit meinem Leben bisher sehr zufrieden.«
»Was macht Merle denn gerade?«
»Sie ist noch im Bad.«
»Seit wann?«
»Zwanzig Minuten.«
»Dann musst du nach ihr sehen.«
»Sie schämt sich vor mir.«
»Darauf kannst du keine Rücksicht nehmen. Hauptsache, ihr passiert nichts.«
»Würdet ihr Ann-Kristin nicht allein in der Badewanne lassen?«
»Doch, aber wir wissen, was wir ihr zutrauen können. Merle ist ein fremdes Kind.«
»Allerdings«, sage ich und verabschiede mich.
Durch die Badezimmertür sind Duschgeräusche zu hören. Ich klopfe an. Keine Antwort.
»Kann ich reinkommen?«
Immer noch nichts. Ich drücke die Klinke herunter. Abgeschlossen.
»Merle, mach auf!«
Ich lausche. Nichts als das Rauschen des Wassers. Ich schlage mit beiden Fäusten gegen die Tür und brülle, sie solle sofort aufmachen.
Langsam wird der Schlüssel im Schloss herumgedreht. Ich reiße die Tür auf. Vor mir steht Merle, eingehüllt in ihr Handtuch. Aus der randvollen Badewanne läuft das Wasser.
Ich renne in die Küche. Hole alle verfügbaren Lappen und Feudel. Hoffentlich ist noch nichts nach unten durchgetropft.
»Zieh dir den Bademantel an, damit du dich nicht erkältest«, sage ich. Rutsche auf den Knien in meinem Bad herum. Wische das Wasser auf.
Merle rührt sich nicht.
»Zieh ihn bitte an«, wiederhole ich mit Nachdruck.
Sie schüttelt den Kopf, ganz leicht, aber deutlich. Dann eben nicht. Soll sie sich erkälten. Ist mir egal. Vielleicht will Merle nichts anziehen, was ich zuvor getragen habe? Ich hätte sie dem Sozialdienst übergeben sollen. Dieselbe Familie. Und wenn schon. Fremde. Fremde Schwester, fremde Nichte.
Merle zittert. Sie greift nach ihrer schmutzigen Unterhose. Ich lasse nicht zu, dass sie ihre alten Sachen wieder anzieht. Ehe sie sich’s versieht, sind sie im Mülleimer verschwunden. Merle öffnet den
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