Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
zurück.
»Du brauchst keine Angst vor mir zu haben.«
»Mama sagt, du hast kein Herz.«
»Wie bitte?«
Sie wendet sich von mir ab. Ich starre auf den kleinen, geraden Rücken und spüre, wie die alte Wut in mir hochsteigt. Herzlos? Allenfalls ihre Mutter.
Jan bringt Kaffee und Saft. Er hilft Merle, die Papierhülle von ihrem Strohhalm abzuziehen. Er spricht zu ihr, leise. Sie antwortet nicht, aber sie dreht ihm auch nicht den Rücken zu.
Wir warten auf die ersten Testergebnisse. Hat eine Klinik einen Sozialdienst, der ein Kind vorübergehend irgendwo unterbringt?
Jan reicht mir einen Becher mit Kaffee.
»Wo ist Merle?«
Er zeigt auf einen Busch. Dort hockt sie und trinkt ihren Saft. »Wenn ich mir vorstelle, sie hat gesehen, wie ihre Mutter Blut spuckt …«
»Mich interessiert vor allem die Frage, was mit ihr passiert. Ich muss mich gleich erkundigen, wer in solchen Fällen zuständig ist.«
Jan zieht seine Augenbrauen hoch. Sonst nichts.
Ich trinke meinen Kaffee aus und stehe auf.
»Warte …«, er fährt sich mit der Hand über die Stirn. »Willst du sie nicht mit zu dir nehmen? Wenigstens über das Wochenende?«
»Nein.«
»Sie ist deine Nichte!«
»Bitte misch dich nicht ein. Ich habe meine Gründe.«
»Oder ihr kommt zu mir. Merle könnte in Gregors altem Zimmer schlafen.«
»Es geht nicht!«
Ich mache mich auf den Weg zum Informationsschalter. Vielleicht glaubt auch Jan, ich sei herzlos. Aber ich kann es ihm jetzt nicht erklären, warum für Lydia und Merle andere Maßstäbe gelten.
Im Pförtnerhaus zeichnet man mir auf einem Plan ein, wo sich der Sozialdienst befindet. Anmeldung montags bis freitags neun bis zwölf. Jetzt ist es Viertel nach elf.
Ich gehe durch eine Ladenpassage, gerade entdecke ich das Schild Sozialdienst, da sehe ich Jan mit Merle an der Hand auf die Cafeteria zugehen. Diese Selbstverständlichkeit, mit der er das Kind an der Hand hält. Sein Sohn war längst erwachsen, als ich Jan vor vier Jahren kennenlernte. Er hat ein Kind großgezogen. Ich nicht. Das hat bisher keine Rolle gespielt.
Ich verstecke mich in einer Nische. Die beiden laufen an mir vorbei, jeder mit einem Eis in der Hand.
Mama sagt, du hast kein Herz. Wenigstens über das Wochenende.
Ist es mir unangenehm, vor Jan als eine Frau dazustehen, die mit einem Kind nicht zurechtkommt? Wir haben am Anfang unserer Beziehung eine klare Abmachung getroffen. Keine Kinder. Mich würde es überfordern, ein Kind zu erziehen, und Jan fällt es nicht schwer, darauf zu verzichten. Er ist bereits Vater. Inzwischen hat sich das Thema Kind mehr oder weniger von selbst erledigt. Das ist erleichternd. Obwohl, es gibt noch Situationen, in denen ich mich frage, warum ich mich niemals nach einem Kind gesehnt habe. Mutter zu sein, mit dieser Vorstellung habe ich immer nur das Gefühl einer großen Anstrengung verbunden.
Als Jan mich kommen sieht, zeigt er auf Merle, die vor ihrem Busch hockt und damit beschäftigt ist, Murmeln in ein Loch rollen zu lassen. »Wir haben uns ein Eis geholt, und ich habe ihr was zum Spielen besorgt.«
»Hat sie mit dir gesprochen?«
»Nein. Die Schwester war übrigens eben hier. Vor morgen früh werden keine Testergebnisse vorliegen.«
Ich schweige.
»Sie wollte auch wissen, was mit Merle geschieht.«
»Ist Lydia operiert worden?«
»Das weiß ich nicht. Hast du bei der Verwaltung jemanden erreicht?«
3.
M erle spricht nicht mit mir. Und ich habe es aufgegeben, ins Leere zu reden.
Jetzt steht sie im Flur und starrt mich an. Ich gehe ins Badezimmer, lasse Wasser in die Wanne einlaufen, hole ein Handtuch aus meinem Wäscheschrank. Ich prüfe die Temperatur des Wassers, stelle ein Shampoo neben die Seife, lege einen Waschlappen dazu.
Und wenn sie sich weigert zu baden?
Weiter als bis zum Türrahmen wagt sie sich nicht vor. Sie mag sich vor mir nicht ausziehen. Oder sie weiß nicht, was ich von ihr will. Hat noch nie gebadet. Vielleicht sollte ich ihr aufschreiben, wozu eine Badewanne gut ist. Wir könnten Zettel austauschen. Aber sie kann nicht schreiben.
Beim Hinausgehen deute ich auf den Bademantel, der in der Ecke hängt. Darin soll sie sich nachher einwickeln, auch wenn er ihr viel zu groß ist. Ihre alten Shorts und das zerrissene T-Shirt werde ich sofort entsorgen. Wir müssen ihr was Neues zum Anziehen kaufen. Ich muss ihr was Neues kaufen. In meinem Bademantel kann Merle nicht auf die Straße gehen. Ich werde Esther fragen, was für ein Geschäft sie mir empfiehlt. Dort werde
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