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Fremde

Fremde

Titel: Fremde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gardner R. Dozois
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draußen über der Decke und oben an einer Wand entlang. Die Stille war zu schwer und dauerte zu lange in der moschusduftenden Dunkelheit, ihr Körper wurde ein zu lebloses Gewicht, und um diese Stille zu brechen sagte er endlich: »Wie war es, als du noch ein Kind warst?« Er sagte dies nicht so sehr, weil er mit einer Antwort rechnete, nicht einmal, weil er es so genau wissen wollte, sondern weil es die einzigen Worte waren, das einzige Bruchstück einer Konversation, die er in seinem müden, benommenen Kopf finden konnte.
    Überraschenderweise antwortete sie, hob sich auf einen Ellenbogen und sagte nachdenklich, ironisch, bitter:
    »Wie es war, als ich noch ein Kind war? Eigentlich erinnere ich mich nur an Leere und Wind und daran, daß niemand mit mir spielen wollte. Ich war allein. Ich ging bei Schnee und eisigem Wind über die Esplanade, blickte auf die verschlossenen Häuser. Ich wußte, daß jeder Tag, jede Minute, die vorüberging, mich dem Tag näherbrachten, an dem ich sterben würde.«
    Farber starrte sie erstaunt an. »War es wirklich so schlimm?« fragte er, doch sie schüttelte nur den Kopf, was keine negative Antwort bedeuten sollte, sondern daß sie nicht weiter darüber reden wollte. Statt dessen richtete sie sich weiter auf, wobei ihr Schenkel über ihn glitt, und starrte gleichgültig, aber eindringlich auf ihn herab, was ihn schließlich mit einer sonderbaren Aufwallung von Peinlichkeit daran erinnerte, daß sie im Dunkeln besser sehen konnte als er. Sie berührte sein Gesicht mit den Fingerspitzen, fuhr sanft über seine Augenbrauen, die Wangenknochen, an der ausgeprägten Kinnlinie entlang. »So fremdartig«, sagte sie verträumt. »So fremdartig. Fast wie ein Tier. Tierisch. Wie eines von unseren huschenden Felsenbabys, die im westlichen Gebirge leben.« Farber, der ein Felsenbaby gesehen hatte, merkte, daß sie ihn mit dem auf ihrer Welt dem Affen ähnlichsten Tier verglich und nach einem anfänglich fast amüsierten Anflug von Ärger beunruhigte es ihn, daß sie ihn für affenähnlich hielt, weil er oft gedacht hatte, wie sehr sie einer Katze ähnelte, oder vielleicht einem Otter: ein schlankes, anmutiges, selbstbewußtes und schönes Tier.
    Animalisch, ja. Wie eine Bestie. Wie er. Er fühlte sich sonderbar schuldig, streckte die Hand aus und berührte ihre Wange, die seidige, knisternde Haarkaskade. Unter seiner Berührung sprangen Funken auf. Mit verzweifelter Hast liebten sie sich noch einmal. Liraun drängte, als fürchtete sie, die Decke würde auf sie herabfallen oder der Boden sie verschlucken, ehe sie fertig waren.
    Danach ruhten sie, sich in den Armen haltend, aus, die Katze und der Affe (was sie beide nicht waren, wenn sie auch Fremde waren) – aber Liraun schlief verkrampft, warf sich herum und stöhnte, als kämpfe sie sich durch das stürmische Land ihres Traumes, und Farber, der sie umfangen hielt und sie die ganze Nacht hindurch streichelte, schlief überhaupt nicht.

6
     
    Farber brauchte noch ein paar Tage, um Lirauns Schweigsamkeit auf den Grund zu kommen, wozu es viel Hartnäckigkeit und Überredungskunst bedurfte. Die Geschichte kam in Bruchstücken zutage. Zusammengestückelt ergab sie etwa folgendes: Die cianische Moral fand nichts dabei, wenn ein unverheiratetes Mädchen einen Liebhaber hatte, auch nicht, wenn es ein fremder Liebhaber war; Jungfräulichkeit war nichts Besonderes – eigentlich eher im Gegenteil. Bis man verheiratet war, wurde erwartet, daß man sein Leben lebte oder im Vaterhaus blieb. Darin lag eine besondere Symbolik – man sagte von einem Mädchen, es gehe »vom Dach ihres Vaters zu dem des Ehemannes«. Es war eine Sache des Besitzes, ganz einfach die Übertragung eines Anspruches, und im cianischen Lebensweg gab es keine Möglichkeit, zwischenzeitlich den Schutz eines anderen Mannes zu akzeptieren. Lirauns Sünde war es also nicht, mit Farber geschlafen zu haben – für die anderen Cian eine Angelegenheit äußerster Gleichgültigkeit –, sondern daß sie mit ihm lebte, »unter dem Dach« eines Mannes lebte, der nicht ihr Ehemann war.
    All dies schenkte Farber eine weitere schlaflose Nacht. Wenn er dreißig Jahre früher geboren worden wäre, hätte er sich möglicherweise keinen Deut um Lirauns Wohlergehen geschert, doch Amoralität war nicht mehr in Mode, und zusammen mit ihrem Horatio-Alger-Optimismus und dem Trieb, Erfolg zu haben, hatte seine Generation den klassischen Humanismus wiederentdeckt – begrenzt auf ihre eigene Klasse, also

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