Fremdes Licht
unsichtbares, glasglattes Material, das an gewisse
prickelnde Getränke erinnerte. Wie war das möglich? Mit den
Handflächen auf dieser Schutzschicht lehnte Ayrid sich dicht an
die Mauer und schnupperte. Nichts. Nur diese Schicht von etwas
Unsichtbarem und dieses schwache Prickeln unter ihren
Handflächen.
Die Wand redete.
»Das ist die Stadt R’Frow. Du willst eintreten. Die Tore
sind in der Ostwand. Geh zur Ostwand, um prüfen zu lassen, ob du
eintreten darfst.«
Ayrid sprang zurück und sah sich wie wild um. Da war weit und
breit niemand. Sie stand allein da unter der strahlenden Sonne von
Quom, das Herz schlug ihr bis zum Hals. Schließlich streckte
sie die linke Hand aus und preßte den Handteller an die
Mauer.
»Das ist die Stadt R’Frow. Du willst eintreten. Die Tore
sind in der Ostwand. Gehe zur Ostwand, um prüfen zu lassen, ob
du eintreten darfst.«
Was sie gesagt hat, hat uns Angst gemacht, hatte Ralschins
Kumpan gestammelt.
Wieder preßte Ayrid ihren Handteller an die Mauer. Die Mauer
wiederholte zum drittenmal ihre Botschaft, mit derselben Stimme,
flach und ein wenig verschwommen, wie ein Grollen aus tiefer Kehle,
aber ohne den drohenden oder warnenden Beigeschmack eines Grollens.
So eine Stimme hatte Ayrid noch nie zuvor gehört.
Ich habe Angst, dachte Ayrid. Sie machte sich nichts vor.
Sie war wieder dicht an die Mauer herangetreten und besah sich das
Material. Was mochte das sein? Was immer es war, die ganze Mauer
schien daraus zu bestehen, wie aus einem Guß, ohne Makel oder
Abweichung, nicht einmal das Wetter hatte Spuren hinterlassen.
Sie trottete an der Mauer entlang, bog um die Ecke und blieb wie
gelähmt stehen, schwankte angesichts der Länge der
Südwand. Die war mindestens vier- oder fünfmal so lang wie
die Westseite; wenn diese Mauern ein langes Rechteck bildeten, dann
paßte ganz Delysia da rein, mitsamt seinen Feldern und
Weingärten, die ringsum vor den Stadttoren lagen, und sogar noch
ein Teil des Küstenwaldes. Die Südwand hatte volle Sonne
und glitzerte wie Wasser, eine senkrechte unberührbare graue
Wasserfläche, so hoch und so lang, daß Ayrid sich die
Augen rieb.
Hier, wo man die Graue Mauer entdeckt hatte, hatte knapp
ein Jahr zuvor noch nichts dergleichen gestanden. In Delysia
behauptete ein Gerücht, ihre Erbauer könnten folglich nur
die Geister der Toteninsel sein. Eigentlich war es den Kindern
vorbehalten, an Geister zu glauben; die Delysier waren zu praktisch
eingestellt, zu sehr an Metall, Glas und Tuch interessiert, um sich
mit Geistern abzugeben. Aber es gab auch die, die sich mitten am
Finstertag in ihren Burnus wickelten und in Glasbecher voll Kaf
murmelten, von einer Zeit, da die Menschen von der Insel der Toten
gekommen waren – denn wer sonst hätte die beiden
Städte auf Quom gründen sollen? Schließlich muß
alles seinen Anfang haben. Und selbst die erfahrensten Fischer hatten
keine Insel gefunden, weder die Insel der Toten noch irgendeine
andere. Die See war weit und leer. Also mußte die Insel der
Toten sehr, sehr weit entfernt sein. Und Geister konnten fliegen,
Geister konnten geheimnisvolle Dinge bewerkstelligen…
Ayrid glaubte nicht an Geister. Wer aber hatte dann die Mauer
erbaut? Nicht Delysia – da gab es keine Handwerker, die
fähig waren, mit einem solchen Material umzugehen, geschweige
denn in dieser Größenordnung. Und Jela schon gar nicht,
diese kriegslüsterne Stadt mit ihren dunklen Heilkünsten,
die sich nur auf den Bau von Waffen verstand. Wer also dann? Niemand
auf Quom.
Ayrid schwindelte der Kopf, sie schloß die Augen und
preßte die Handfläche an die Mauer.
»Das ist die Stadt R’Frow. Du willst eintreten. Die Tore
sind in der Ostwand. Geh zur Ostwand, um prüfen zu lassen, ob du
eintreten darfst.«
Weit voraus entdeckte Ayrid zwei Gestalten an der Mauer – sie
gingen nach Osten.
Wer waren sie?
Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie folgte den Gestalten,
folgte der sprechenden Mauer, junges Gras unter den Füßen,
das auf einem ebenen Plateau sproß, das eigentlich auch
Kemburis hätte hervorbringen müssen und Dornbüsche und
Schneeglöckchenbäume und andere klebrige
Pflanzenmäuler.
Als sie endlich das Ende der südlichen Mauer erreicht hatte
und um die Ecke bog, blieb sie erstaunt stehen. Ein – nein, zwei
schäbige Dörfer lagen da in der sengenden Sonne. Die
Ostmauer, aus dem gleichen seltsamen Material wie die Süd- und
die Westmauer, wurde von drei mächtigen Toren unterbrochen, alle
drei schwarz
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